Von Dr. Albert Wittwer
Wir Europäer, ausgestattet mit Kreditkarte, kompetenter Sozialversicherung, Reise- und Niederlassungsfreiheit, halten die allumfassende Sicherheit und die üppigen Konsum- und Unterhaltungsangebote für unseren natürlichen Zustand, eine angeborene Eigenschaft. Diese Weltsicht gerät jetzt in Schieflage. Jetzt wird für uns die Lage etwas fragiler, wie sie in weiten Teilen der Welt üblich ist.
Je nach politischer Weltsicht neigten wir dazu, für die Menschen in problematischen Ländern, in „failed states“ eine sofortige Intervention zu verlangen. Dabei ist unklar, wer denn einmarschieren soll. Die EU, die NATO? Jedenfalls die Ärzte ohne Grenze und die Caritas.
Oder wir deklamieren, dass diese Länder jedenfalls selbst an ihrem Schicksal schuld sind, mögen sie auch an unfairen Handelsbeziehungen leiden, man denke an die hochsubventionierte amerikanische Baumwolle oder das in den Sahel importierte europäische Brathuhn.
In diese Beschaulichkeit kracht jetzt die „Reisewarnung für alle Staaten“, das Absagen oder euphemistischer Verschieben aller Kultur- und Sport-Events. Gut, wir gehen dann in einigen Monaten zweimal in der Woche in die Oper, verdoppeln unsere Urlaubsreisen und Städteflüge? Aber was kann man schon nachholen? Wir leben: jetzt.
Was wir erleben – in Österreich und den meisten europäischen Ländern – ist ein hervorragendes Funktionieren des Staates. Die demokratisch legitimierten Organe, die Regierung im Bund und den Ländern, machen ohne Zögern das Richtige. Sie reduzieren Ungewissheit und Risiken, organisieren Netzwerke und finanzielle Unterstützungsmaßnahmen. Das angeblich inkompetente Establishment funktioniert. Der Populismus ist ganz still, „er verhält sich parasitär zu einer Normalität, die ihm als langweilig oder korrupt gilt, von der er aber komplett abhängig bleibt.“ Die Sachlichkeit nimmt zu, man erwartet zu Recht Antworten, Lösungen von der Wissenschaft, der Medizin und Pharmazie, den ehemals als „sogenannt“ diskreditierten Experten.
Unbeachtet bleibt derweil die Erholung der Natur. Wahrscheinlich hat Corona für das Jahr 2020 bereits große Verdienste für das Weltklima geleistet. Halt, wäre ja eine gute Nachricht, die nicht spannend ist. Vielleicht lernen wir daraus. Etwa, wie eine Wirtschaft mit weniger Konsum dennoch stabil bleibt.
Zitate: Chinesisches Sprichwort, Jan Ross in Die Zeit v.12.3.2020
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