Von Dr. Albert Wittwer
Achtunddreißig Milliarden
Bei den vielen Hilfsprogrammen von Bund und Ländern verliert man den Überblick über die Summen, die da im Spiel sind. Ganz genau wissen das sowieso erst in Jahren die Buchhalter, wenn abgerechnet ist. Wir, von den verantwortungsvollen Eltern zur Sparsamkeit erzogen, lernen erstaunt: Es braucht jetzt gerade keine „schwarze Null“. Neue Schulden zu machen oder zuzulassen ist plötzlich nicht nur erlaubt und möglich, sondern geboten. Und was an Milliardenhilfen versprochen wird, ist viel.
Ganz still sind diejenigen, die sonst immer ihre Oma zitieren, „daß man nur ausgeben kann, was man hat“ und die unbeirrt glauben, was für eine Privatperson klug und richtig ist, gelte auch für die Staaten, die Europäische Union oder gar die USA. Die Staaten unterscheiden sich von der Oma dadurch, daß sie Geld „drucken“, inzwischen buchmäßig „schöpfen“ können. Drucken sie zu viel, entsteht galoppierende Inflation. Die Geldmenge muß im Verhältnis zu den erzeugten Gütern und Dienstleistungen stehen. Es ist die Vorstellung, daß zusätzliches Geld zusätzliche Nachfrage, Investitionen und Konsum, auslöst. Aber die Unternehmen investieren in Wahrheit nur, wenn sie Marktchancen für ihre Produkte sehen, billiges Geld allein genügt ihnen nicht. Beim Konsum ist die Frage, wer das zusätzliche Geld bekommt. Bei den Wohlhabenden kann wohl von einer Marktsättigung ausgegangen werden. Sie brauchen keinen Zweit- oder Drittwagen. Werden die niedrigen Einkommen erhöht, fließt sicher ein Großteil in den Konsum. Aber derzeit geht es nicht um Mehreinkommen, sondern um die Sicherung des Lebensunterhaltes und die Weiterexistenz von Unternehmen, denen die Umsätze weggebrochen sind. Jetzt bezweifelt niemand, daß die Schulden notwendig sind, um die Wirtschaft und mit ihr die Arbeitseinkommen abzusichern.
Was bedeutet das für die Republik Österreich, warum kann sie sich das plötzlich leisten?
Die Schuldzinsen für zehnjährige Bundesanleihen liegt bei 0,185 Prozent, das ist viel weniger als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre und länger. Etwas weniger bezahlt in der Europäischen Union praktisch nur Deutschland. Jetzt bezweifelt niemand, daß die Schulden notwendig sind, um die Wirtschaft und mit ihr die Arbeitseinkommen abzusichern.
Aber das geborgte Geld muß doch irgendwann zurückbezahlt werden? Zunächst ist der Umstand, daß es nicht vergeudet wird, beachtlich. Wer ein relevantes Vermögen hat, darf durchaus auch Schulden haben. Das trifft auf den Staat ebenso zu wie auf uns Menschen. Dann neigen die Staaten und die Unternehmen dazu, Schulden bei Fälligkeit nicht zu tilgen, sondern umzuschulden, also die Rückzahlung weiter hinauszuschieben.
Ein amerikanischer Ökonom hat die Schuldenobergrenze, ab der zusätzliche Staatschulden nicht mehr Wohlstand, sondern Armut erzeugen, mit neunzig Prozent der Wirtschaftsleistung eines Landes bestimmt. Ein Student hat später nachgewiesen, daß diese weltweit gerühmte Berechnung fehlerhaft war. In der Europäischen Union ist nach den Konvergenzkriterien eine Verschuldung von sechzig Prozent zulässig, diese Grenze ist aber faktisch außer Kraft gesetzt. Die Eurozone liegt bei durchschnittlich 85 Prozent und Österreich bei unter siebzig Prozent. Die Ökonomen sind sich einig, daß durch die Hilfsprogramme nur eine marginale Verschlechterung entsteht und verkraftbar ist. Zum Vergleich: die Verschuldung der als sicherer Hafen gehandelten USA beträgt hundertzehn, sie liegt in Italien bei 136 und in Japan bei 237 Prozent.
Die durchaus umstrittene Modern Monetary Theorie bietet eine theoretische Grundlage, warum – gegen alle früheren Theorien – diese Volkswirtschaften dennoch funktionieren. Dazu gibt es ein originelles Gedankenexperiment, wonach die Höhe der Staatsverschuldung egal sei, solange die für die Schulden bezahlten Zinsen niedriger sind als das Wirtschaftswachstum. Denn höhere Gewinne und Gehälter spülen höhere Steuereinnahmen in die Kasse, aus denen die die zusätzliche Zinsbelastung leicht getragen werden kann.
Aber ach, das Wirtschaftswachstum, das „füllet die Erde und machet sie euch untertan“, wird unseren ganzen Erfindungsgeist erfordern. Ohne Versöhnung des Wirtschaftens mit der Welt-Ökologie müssen spätestens unsere Enkel einpacken.
Es gibt niemand, der glaubt, wir kehrten, wenn es dann eine Impfung gibt, einfach zurück, es werde wirtschaftlich, gesellschaftlich wieder alles, wie es war. „Niemand steigt zweimal in denselben Fluß.“ Die weiteren gesellschaftspolitischen Herausforderungen sind bekannt: Die Automatisierung wird viele Arbeitsplätze kosten. Die Verteilung des Sozialproduktes kann nicht dauerhaft und nachhaltig überwiegend auf traditionellen Arbeitseinkommen beruhen. Ein neuer Gesellschaftsvertrag verlangt neben der Neubewertung von Arbeit auch die systematische Finanzierung von bisher unbezahlter Arbeit. Auch der Papst hält die Einführung eines Einkommens für einkommensschwache Beschäftigte mit prekären oder informellen Einkommensverhältnissen für notwendig.
Woher dieses Geld nehmen? Die traditionelle Antwort lautet: Aus Steuern. Ein modernerer Ansatz wäre die Rückkehr zu einem partiellen Staatskapitalismus. Der kann, wie wir erkennen, durchaus kreditfinanziert sein. Der Staat beteiligt sich schon heute (oder immer noch) an systemrelevanten Unternehmen wie Post, Telekom, OMV, an Elektrizitätsversorgern. Er sollte seine Beteiligungen diversifizieren und ausbauen und aus den Dividenden die Transfers finanzieren.
Die Fluggesellschaft AUA braucht nicht weniger als 800 Millionen Euro. Ich wage kein Urteil, ob es Sinn macht, staatlich in überbordenden Flugverkehr zu investieren. Aber technisch müßte es kein Darlehen sein – das sowieso nie zurückkommt – sondern eine Aktienbeteiligung.
Das alles ist schwierig und setzt gesellschaftlichen Konsens voraus. Aber war es jemals einfach?
Zitate: Johanna Mikl-Leitner, J.K. Galbraith, Kenneth Rogoff, WKO-Statistik, Modern Monetary Theorie (u.a.Warren Mosler), Gen. 1.28, Heraklit, Papst Franziskus
Sehr treffend formuliert, einen Aspekt möchte ich noch dazu packen: es werden ja nicht nur Schulden für die Hilfsprogramme gemacht, auch die deutlich/dramatisch verschlechterte gesamtwirtschaftliche Lage eines Staates, der in Teilen vom Tourismus abhängig ist, wird die Einnahmeseite im Jahr 2020 extrem drücken. Auch diese Differenz muss ausgeglichen werden.
das trifft sicher zu. Aber die Stützung der Wirtschaft und der Einkommen zur Existenzsicherung ist alternativlos. Allerdings denke ich nicht, daß die Wirtschaftsform „vor Corona“ eine unausweichlich richtige, sozusagen naturgesetzliche war.
Sehen sie da nicht das Ende vom Euro? Ich schon.
Ich halte den Euro für eine Erfolgsgeschichte. Warum sollte er ausgerechnet jetzt scheitern? Dafür sehe ich keine Anzeichen. Soweit ich sehe, will niemand aus dem Euroraum austreten.