Von Dr. Albert Wittwer
Sind wir korrupt? Nein.
Aber was ist mit den ständigen Korruptionsprozessen? Folgt man dem Korruptionsindex, belegt Österreich nur den Rang 16, abgeschlagen u.a. hinter der Schweiz, Deutschland, Neu Seeland und anderen. Zunächst gibt der Index nur die subjektive Meinung befragter Manager wieder, die sich nicht objektivieren läßt. Als ich studierte, konnten die Unternehmen im Ausland bezahlte Bestechungsgelder noch von der Steuer absetzen. Die Manager halten Konstruktionen, die steuerschonend Geld in die Oasen, in die Schweiz, nach Lichtenstein, Delaware verschieben oder dort verstecken, nicht für Korruption. Sie können dann nur magere Löhne im Inland zahlen, weil der Gewinn so klein ist. Oder daß sich bedeutende Finanzinstitute mit Frontrunning beschäftigen. Dabei werden Wertpapiere Bruchteilsekunden vor einem echten Kunden gekauft und an diesen etwas teurer weitergegeben. Legal. Dann noch Hochfrequenzhandel, bei dem jeden Abend alles auf Null steht, keine Veranlagung und kein Risiko. Das Korruptionsranking sagt soviel aus wie eine Nicht-Verbale-Schulnote.
Ich denke, Korruption tritt in zwei Erscheinungsformen auf, die ich als Alltagskorruption und echte Korruption bezeichnen möchte.
Korruption und Alltagskorruption, Öffentlichkeit und Justiz.
Zur Alltagskorruption ein Beispiel aus der östlichen Slowakei. Von dort stammte die liebenswürdige Betreuerin meiner betagten Mutter. Ich bat sie, mit meinem Auto eine Besorgung zu machen. Sie lehnte ab. Aber Sie haben doch einen Führerschein? Ja, aber ich kann nicht fahren. Wir geben dem Prüfer 150 Euro und dann wird der Führerschein, ohne weiteres ausgestellt.
Das ist bei uns undenkbar. Zwar hat man das „Anfütterungsverbot“ eingeführt, dann aber wieder entschärft. Beamte und Politiker dürfen beispielsweise straflos beispielsweise mit Festspielkarten versorgt werden. Als könnten sie sich die Karten aus ihrem Gehalt nicht leisten. Dafür machte sich die Präsidentin der Salzburger Festspiele stark – diese aus Steuern hochsubventionierte Kulturveranstaltung sei sonst in ihrem Bestand gefährdet. Das Entgegennehmen eines Geschenkes für eine rechtmäßige Amtshandlung ist sowieso verboten, die unrechtmäßige jedenfalls Amtsmißbrauch.
Die gefühlt zahlreichen Prozesse, über die ständig berichtet wird, beschäftigen sich eher mit echter Korruption. Wie erwähnt ist nur ein Teil illegal. Ich möchte den Staat mit einem menschlichen Organismus vergleichen. Niemand ist jemals völlig gesund, völlig virenfrei. Die Immunabwehr führt einen ständigen Feldzug gegen die Viren und gewinnt ihn – glücklicherweise – viele Jahre lang. Meines Erachtens sind die öffentlich gewordenen Prozesse, die Medienberichte darüber, die Untersuchungsausschüsse des Parlamentes das Fieber, das die ständige Bedrohung durch das Virus der Korruption bekämpft. Eine korruptionsfreie Gesellschaft halte ich auf dieser Welt nicht für möglich. In Österreich handelt es sich – anders als in Rußland oder China – nicht um Schauprozesse, in denen missliebige Oligarchen vorgeführt werden.
Allein der Umstand, daß ein Strafverfahren eingeleitet wird, ist für die betreffenden österreichischen (meist ehemaligen) Amtsträger eine Katastrophe. Sie werden von ihren Einrichtungen, wenn sie davor nicht geschützt werden können, fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel. Es ist also ziemlich egal, ob der „beste aller europäischen Finanzminister“ jemals verurteilt wird. Eine Statistik der österreichischen Verfahren gegen hochrangige Ex-Politiker wäre interessant. Es gibt sie, soweit ich sehe, nicht. Verfahren gegen aktive Politiker, gibt es die? Man muß sie mit der Stecknadel suchen.
Von größter Bedeutung ist die Tätigkeit der Rechnungshöfe und auch die Whistleblower-Regelung, die Verschwiegenheitspflicht der Medien betreffend ihre Informanten und ihre rechtliche Absicherung. Informanten begehen, wie die Großbetrüger gebetsmühlenartig wiederholen: Geheimnisverrat, Datendiebstahl, Vertrauensbruch, Pflichtverletzungen und mindestens üble Nachrede. Das Schweizer Bankgeheimnis läßt grüßen. Die mutigen Menschen, die dort Steuerhinterziehungsinformationen kopieren und weitergeben, durchaus nicht „stehlen“, sitzen in der Schweiz wegen Verletzung des Bankgeheimnisses dann jahrelang in Haft. Das hat die Großbanken aber nicht davor geschützt, nach Datenweitergaben dreistellige Millionenbeträge an Schadenersatz etwa an die US-Regierung und private Organisationen, etwa der Nachkommen von legalen, ehemals anonymen Bankkonten zu zahlen. Der Informant, wird man seiner habhaft, kann ein beschauliches Leben vergessen. Das erinnert an die fieberhafte Suche der österreichischen Polizei nach den „Hintermännern“ der Ibiza-Affäre, als wären sie korrupt, nicht der Scriptschreiber und Hauptdarsteller. Dieser bleibt strafrechtlich unbehelligt.
Auch die Karriere der Staatsanwälte ist vom Wohlwollen ihres Ministers abhängig. Da ist vorauseilender Gehorsam angebracht. Außerdem muß der Staatsanwalt heikle Causen sowieso hinauf berichten – und dann auf die Reaktion warten. Wer braucht bei so einem System noch eine schriftliche Weisung? Umso dringender wäre es, einen unabhängigen, unabsetzbaren Generalstaatsanwalt einzusetzen, bei dem die Berichts- und Weisungskette der Staatsanwaltschaft endet – statt beim Minister oder derzeit der Ministerin. Das gibt es etwa in Frankreich.
Korruption und Demokratie
Der Vorarlberger Ernst Fehr (Uni Zürich) schrieb vor etwa dreißig Jahren, die Demokratie sei – abgesehen von anderen Vorteilen – für den Wohlstand der breiten Bevölkerung am besten. Die Politiker, die sich Wahlen stellen müssen, seien gehalten, ihre Maßnahmen nicht nur auf Eliten abzustimmen. Man glaubte, Demokratie und der mit ihr verbundene marktwirtschaftliche Kapitalismus sei dafür die Voraussetzung. Die Länder des real existierenden Sozialismus waren wirtschaftlich am Ende. Damals war China noch ein Entwicklungsland, keine kommunistische Wirtschaftsgroßmacht.
Wir haben heute gelernt, daß straffe Diktaturen Marktwirtschaft können. Die sogar in einzelnen Ländern der EU, etwa in Ungarn, mehrheitsfähige Ideologie der gelenkten Demokratie, mit der auch Teile der österreichischen Parteien sympathisieren, war noch nicht erfunden. Heute wissen wir, daß es genügt, eine Mehrheit der Bevölkerung soweit zu bedienen oder auch nur in Angst zu versetzen, daß man die Wahlen gewinnt. Die Minderheit kann man – meisten links – liegen lassen. Und mit den modernen Methoden der Propaganda diskriminieren.
Was hat das mit Korruption zu tun? Das Vermögen des Präsidenten von Russland, der nominell erheblich schlechter verdient als der österreichische Kanzler, wird auf 80 bis 200 Milliarden Dollar geschätzt. Damit ist er in oder über der Liga der Entwickler von Kybernetik und der Internetgiganten. Das Vermögen des Clans des ungarischen Präsidenten sei beträchtlich. Die Herkunft des Vermögens zwingt die “Staatenlenker“, wie die in vielen Teilen der Welt regierenden Kleptokraten, an der Macht zu bleiben. Wenn sie in den Ruhestand treten, können sie die Strafverfolgung wegen Korruption durch die neue Regierung nicht mehr verhindern.
Von solchen Zuständen sind wir in Österreich weit entfernt. Ich denke, daß Österreich beim eingangs erwähnten Frontrunning und Hochfrequenztrading nicht mitmischt, sondern bloß als Opfer Wohlstand verliert.
Leben wir in einer „Insel der Seligen“? Für viele Menschen ist die mitteleuropäische Gegenwart, auch bei kritischer Analyse, die beste aller Zeiten. Sie befürchten, daß es nicht so bleiben kann. Die Befürchtung ist berechtigt, weil sich das Wachstums-Mantra nicht bei „freiem Wirtschaften“ mit der Klimakrise in Einklang bringen läßt. Es scheint mir offensichtlich, daß sich die politische Führung in Österreich nicht selbst bereichert. Was wollen wir noch? Dürfen wir auch verlangen, daß sie sich nicht von der Droge der Macht abhängig macht, ihre Entourage nicht bedient und von den Superreichen finanziert, die falschen Antworten gibt?
Anmerkungen:
Korruptionsindex Transparency International;
Putins Vermögen: https://www.manager-magazin.de/finanzen/artikel/200-milliarden-dollar-vermoegen-wie-reich-ist-putin-wirklich-a-1018696.html;
Originalzitat: BMfF a.D. KH Grasser, Beschuldigter im BUWOG-Verfahren;
Ernst Fehr, Uni Zürich, „wichtigster Wirtschaftswissenschafter der Schweiz“,
Papst Benedikt XVI.