Von Dr. Albert Wittwer
Politik manipuliert häufig unsere Emotionen, mit großen Gefühlen: Heimat, Zugehörigkeit, Sicherheit, Geborgenheit, Tradition, angestammte Kultur, Solidarität-mit-den-Eigenen, -den-Anständigen-und Tüchtigen, Optimismus, Hoffnung, Zuversicht. Im Gegensatz zu Angst, Furcht, Abwehr, Bedrohung, Umvolkung, Überfremdung. Islamisierung. Besonders die populistische Politik spricht sie an, löst sie aus, benützt sie, mag das Gefühl der Gefahr auch latent immer vorhanden sein. Wie auch nicht. Diese Gefühle rühren unmittelbar aus der Fragilität unserer endlichen Existenz. Wer kann uns da beruhigen, beschützen, uns Frieden verschaffen, vor schlaflosen Nächten bewahren?
Auf Ebene der Gesellschaft, des Gemeinwesens und Staates erwarten wir es von der Autorität. Daher zeigen sich die politischen Führer vorwärtsgewandt, wollen das Richtige, haben das „natürlich“ schon immer gesagt/getan/sich dafür eingesetzt. Sie sind überwiegend männlich, Vaterfiguren oder attraktive Schwiegersöhne. Sie sind irrtumsfrei. Sie entschuldigen sich für nichts. Sie reden Klartext. Sie sind mutig.
Ihre Mitbewerber hingegen sind ewiggestrig, spitzfindig, politisch überkorrekt, schauen alt aus, werden am Ende des Tages Augen machen, sich bekehren.
Unsere Gefühle – wenn wir sie nicht hinterfragen – entscheiden auch über unsere politischen Präferenzen, unser Verhalten als Wählerin und Wähler. Dabei übersehen wir: Womit sie, die politischen Führer, uns beschäftigen, hat manchmal nichts oder wenig mit ihrer wahren Agenda, dem Ausbau ihrer Macht, der Bedienung ihrer Elite, zu tun.
Als ich vor im Jahre 1967 als bloßer Handelsakademieabsolvent die Matura aus Psychologie nachholen mußte, lernte ich aus dem Lehrbuch, unser Bewußtsein sei für unsere ja völlig vernunftgeprägten Entscheidungen dominant, das Unbewußte hingegen äußere sich bei einem gesunden Menschen fast nur in den Träumen. Unser Gedächtnis biete eine objektive, weitgehend vollständige Aufzeichnung unseres bisherigen Erlebens. Aus heutiger Sicht (und auch schon von Freud widerlegt): Was für ein Unsinn. Nichts davon ist richtig.
Aus der aktuellen Forschung weiß man seit einigen Jahren, daß uns die Gefühle unmittelbar, wahrhaftig, blitzschnell ansprechen. Die Empfindungen, die von Wahrnehmungen, Ereignissen, Personen ausgelöst werden, sind authentisch. Die Empfindungen sind wahr. Aber sind sie auch wertig? Sind sie den Anforderungen des digitalen Zeitalters, der Demokratie und der Herrschaft des Rechts, der Globalisierung angemessen, gewachsen? Das sind sie aus politischer Perspektive nicht. Sie führen heute, in naher Zukunft, zum Scheitern des – nennen wir es – menschlichen Experimentes, des Anthropozän. Sie führen zum Scheitern der Schöpfung aus menschlicher Perspektive. Sie führen in den Abgrund, in Krieg, Isolation, Hungersnöte, Hitzetod. Die Gefühle boten geschätzten dreißigtausend menschlichen Generationen, unseren Vorfahren, einen verläßlichen Kompass des Handelns, eine intuitive Überlebensstrategie. Das ist heute – im Zeitalter der atomaren Wiederbewaffnung und des Klimawandels und des 7×24 h-Internet-Shitstorms – nicht mehr der Fall.
Spätestens jetzt werden sie protestieren. Denn ein Gefühl habe ich bisher ausgelassen: Die Liebe in ihren Erscheinungsformen. Über alle Fortpflanzung, die Weitergabe unserer Gene hinaus, bewirkt sie unsere Empathie, Hilfsbereitschaft, Solidarität. „Freude schöner Götterfunke, Tochter aus Elysium“.
Liebe und Freundschaft sind ebenso elementar und geraten doch mit den anderen oft in Widerstreit.
Wenn die Gefühle so direkt und überwältigend, noch vor-bewußt wirken, wo bleibt da die Willensfreiheit? Immerhin herrscht bei der Gehirnforschung aktuell die Meinung, wir hätten einen Bruchteil von Sekunden Zeit, innezuhalten und uns – vor der bloß gefühlsgesteuerten Handlung – zu besinnen. Und unserem freien, wohlbedachten Willen zu folgen. Also gut, nutzen wir sie, diese schmale, köstliche Freiheit!
Anmerkungen:
Hanna Arendt, in „The Origins of Totaliarisms“ beschreibt sie den „Pakt von Mob und Eliten“. Die Interessen von oben und unten lassen sich gegen einen äußeren Feind, der besiegt und unterworfen werden will, vorübergehend in Übereinstimmung bringen.
Sigmund Freud: die narzißtische Kränkung: womit er natürlich auf grossen Widerstand stiess, weil es nach Kopernikus und Darwin die 3. grosse Kränkung für die Menschheit war: wir sind nicht im Zentrum des Universums, nicht die Krone der Schöpfung und nicht einmal mehr „Meister im eigenen Haus“.
Jonathan Haidt, „The Righteous Mind: Der Elefant ist das unbewusste Fühlen. Der Reiter kann es mal bremsen, mal ihm eine Richtung vorgeben. Aber meist setzt sich der Elefant durch.“
Wenn Sie sich für objektiv halten, machen sie Mazahri Banahjis Implizit Associazion Test (IAT), Univ. Harvard, https://implicit.harvard.edu/implicit/takeatest.html
Zur Willensfreiheit: John-Dylan Haynes: Willensfreiheit, sh. z.B. https://www.deutschlandfunkkultur.de/neue-erkenntnisse-zur-willensfreiheit-wie-das-gehirn.976.de.html?dram:article_id=371055.
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Ich oute mich als Fan, ich mag Ihre Art zu schreiben, sehr informativ und gut verständlich ?
Liebe FEM, ich vermute, Sie sind eine Dame, danke für Ihre Meinung. Das stimmt mich zuversichtlich.
Ja, Ihre Sichtweise gefällt mir – nur die Rolle der Diplomatischen Vertretungen sehe ich etwas milder: In der Krise haben sie sehr vielen Auslandsösterreichern sehr geholfen, die ohne eigenes Zutun oder Verschulden (eben nicht wegen Urlaub oder „Sightseeing“) in große Nöte gekommen sind.
Eigenartig: dieser Kommentar ist beim falschen Artikel gelandet – sollte eigentlich beim „Overtourismus“ stehen 🙁
Da stimme ich Ihnen aus Überzeugung zu. Das waren Zeiten der Bewährung für den Dienst.
Albert, ich mag deine Artikel!