Hab vor ein paar Tagen ein längeres Gespräch mit einer Bekannten gehabt. Ich wollte bewusst zuhören und hab sie einfach reden lassen. Nach ein paar Minuten ist mir aufgefallen, dass sie immer wieder das kleine Wörtchen “zu” verwendet. Hab angefangen mitzuzählen – irgendwann hab ich aufgehört zu zählen.
Dabei kam mir die Idee für einen neuen “Brief von Gerd”. Das Thema, das wir besprochen haben, spielt keine Rolle. In 95 % aller “Problemgespräche” geht es aus meiner Erfahrung eh über Sex und Beziehungen, Geld oder Krankheit. Diejenigen von euch, die mich öfters lesen, wissen, dass ich es liebe, Menschen zu beobachten, mit Menschen zu sprechen und Menschen zu lesen. Das Lesen von Menschen braucht ein paar Jahre Erfahrung, ein paar Lebenskrisen, ein paar Grenzerfahrungen und vor ALLEM Interesse an Menschen. Und DANN ist dieses Lesen spannender als jeder Krimi, den ich schon in den Händen hatte. Also heute schreibe ich über das kleine Wörtchen “zu” – ich habe es selber zu lange und zu oft verwendet – ABER zwischenzeitlich versuche ich ganz bewusst, es so oft als möglich aus meinem Wortschatz zu vertreiben. Eigentlich “hasse” ich dieses Wort, weil es meiner Meinung nach verantwortlich ist, für soo viel Leid, so viele gescheiterte Beziehungen und weil es für soooo viele Ausreden herhalten muss. Fangen wir harmlos an …
Ich würde schon joggen gehen, aber das Wetter ist zu schlecht, zu windig, zu regnerisch, zu kalt – oder zum Laufen ist es heute einfach zu heiß. Der neue Job würde mich schon interessieren, aber die Zusatzausbildung, die ich da machen müsste, ist mir zu anstrengend, das Altbekannte zudem zu vertraut, die zu erwartende Veränderung zu unsicher…
Nicht nur das Wetter ist zu kalt oder zu warm – nein – auch der Job ist zu anstrengend oder zu langweilig, die Arbeit der Anderen ist zu gut bezahlt, meine ist zu schlecht bezahlt, die Guthabenzinsen zu niedrig und die Kreditzinsen zu hoch, der Mensch selber zu klein oder zu groß, zu dick oder zu dünn…
WARUM kann man nicht einfach sagen – Das Wetter ist richtig, der Job ist gut, die Zinsen berechtigt und mein Aussehen ok…???? JEDER von uns kennt das – ABER eigentlich hilft uns das kleine “zu” nur, uns über unsere Faulheit, unsere fehlende Flexibilität oder unser Vertrauen ins Leben “hinwegzuschwindeln” Jetzt wird`s gefährlicher – zum “ZU” kommt noch das DU dazu – und jetzt geht´s ans Eingemachte. Dieses Wörtchen zerstört so viele Beziehungen – Beziehungen von Freunden und Beziehungen von Liebes- und Lebenspaaren.
Ich hör und registriere das immer wieder – egal wo ich hinhöre, egal wo ich sitze…in beinahe JEDER Partnerschaft kommt das mehr oder weniger vor. Ich weiß wovon ich spreche – ich bin den Weg, den dieses “Scheiß” Wort pflastert, längst gegangen – und zwar bis zum bitteren Ende.
Nicht dass alles Folgende bei mir selber vorkam – ne ne – so war das nicht – ABER einzelne Phrasen kommen mir schon bekannt vor. Ich sag euch aber nicht welche…
Du bist zu modisch, du brauchst zu viel Geld, du weinst zu schnell, wegen jeder Kleinigkeit, du bist zu hart, zu wenig einfühlsam, zu geizig, zu stur, zu langsam, zu schnell, du willst zu viel Sex, du hast zu ausschweifende sexuelle Phantasien.
ABER keine Sorge – man kann auch alles umdrehen – und das tut man auch.. mal versuchen…..
Du kleidest dich zu altmodisch, du gibst zu wenig Geld für dein Aussehen aus, du bist nicht mal in der Lage zu weinen und Gefühle zu zeigen, du bist zu weich, zu mitfühlend mit Menschen, die dich doch nichts angehen, zu verschwenderisch, zu flatterhaft mit deiner Meinung, zu schnell – und du willst zu wenig Sex, der Sex mit dir ist zu wenig abwechslungsreich.
Du bist zu stur – aber ich will einen Menschen, der zu seinen Werten steht und sie auch lebt. Zu viele Werte, zu wenig Werte, zu viel Interesse, zu wenig Interesse.
Ich könnte da stundenlang weiterschreiben – und ich würde trotzdem kein Ende finden. Es gibt IMMER etwas zu kritisieren. UND weil die Überschrift und der Beweggrund dieses Briefes eine “Beziehungsproblematik” war, möchte ich auch in diese Richtung enden. Meine Lebenserfahrung, einige Beziehungen, längere und kürzere, zerplatzte Lebensträume und Lebensplanungen haben mich gelehrt, in Beziehungen das Wort “ZU” durch “TROTZ” zu ersetzen.
UND deshalb möchte ich ALLEN Menschen sagen, mit denen ich in Beziehung bin – mich interessiert euer “zu….und und und” nicht – ich bin mit euch in Verbindung TROTZ eurem “zu…?????”
UND ganz zum Schluß – meine Erfahrung hat mir gezeigt – wer das nicht begreift, wer das nicht versucht zu leben, wer das “zu” des anderen zu sehr in den Mittelpunkt seiner Gedanken stellt – der wird weiterwandern…UND zwar ZU jemand anderem. ZU einem Menschen mit anderen, aber nicht weniger vielen “Zus”. In Gedanken – euer G. Ender – I write not only for your smile