Von Gabriel Remarque
Der folgenreiche Anruf der Schule muss Nadia Kelemen* irgendwo zwischen Tür und Angel erreicht haben, als sie das Mittagessen zubereitete. Es dürfte wahrscheinlich um den 26. Mai 2017 gewesen sein und sie ahnte in keiner Weise, dass das Jugendamt (also der KJHT bzw. die MA11) ihr schon wenige Tage später zwei ihrer Kinder wegen „Gefahr im Verzug“ abnehmen sollte.
Die Direktorin des Gymnasiums eröffnete der Mama, dass es Komplikationen mit dem mittleren Sohn gäbe. Den Eltern bereitete das, was die Schulleiterin nun als ernstes Problem schilderte, allerdings schon über Monate hinweg Kopfzerbrechen:
Die Leistungen des damals 13-Jährigen waren rapide abgefallen. Aus dem guten Schüler war innerhalb von eineinhalb Jahren ein Junge geworden, der sich um Hausübungen drückte, zunehmend schlechte Noten nach Hause brachte, sich in seiner Schule gemobbt fühlte und immer unzufriedener und verschlossener wirkte. Daheim war ihm die einstige Freude am Klavierspiel vergangen und sogar sein Sport machte ihm keinen Spaß mehr. Nur „E-Sports“, also Computer-Gaming, schien ihn noch zu interessieren. Die Welt des Pubertierenden verengte sich zusehends auf die Größe der Bildschirme, auf denen er „zockte“.
Die Frage, ob sich Frau Kelemen über die offensichtlichen Schwierigkeiten ihres Sohnes Leonard bewusst sei, konnte sie daher nur bejahen. Auch dass es mühsam mit ihm sei in letzter Zeit und dass sie sich selber darüber sorge, erzählte Nadia Kelemen so freimütig, wie dies am Handy eben möglich ist; trotz schlechter Verbindung, zwischen Schneidebrett, Pfannen und Töpfen.
Die Pädagogin bestärkte sie darin: Man dürfe so etwas nicht auf die leichte Schulter nehmen. Da Frau Kelemen ihr ja nun selber bestätige, dass der momentane Zustand nicht tragbar sei, empfahl ihr Leonards Schuldirektorin die MA11 zu verständigen. Diese Behörde, so überzeugte sie die Mutter, habe Erfahrung in solchen Fällen und schon oft helfen können. In der Vorstellung, damit sollte nun eine Art psychologische Hilfe für den Jungen in Anspruch genommen werden, willigte die Mama ein und wandte sich dann voll und ganz der Küchenarbeit zu.
Dieses kurze Handygespräch sollte wenige Tage später Eingang in die allerersten Akten der MA11 zu diesem Fall finden. Allerdings nicht von der Anruferin selber verfasst, sondern von den MitarbeiterInnen des Jugendamtes fragmentarisch wiedergegeben. Von diesem Zeitpunkt an sollte in sämtlichen Schriftstücken der Behörde nur noch die Rede davon sein, dass die Mutter selber bestätige, dass „Gewalt in der Familie“ herrsche und die arme Frau froh darüber sei, dass sie Hilfe erhalte; also dass die MA11 darüber informiert würde.
Innerhalb von Wochen sollten sich zu dieser absurden Verzerrung immer abwegigere Behauptungen gesellen. Bereits im Krisenzentrum, wo die Kinder untergebracht und von ihren Eltern isoliert wurden, versuchte man den ungläubigen Buben weis zu machen, dass ihre eigene Mama sogar schon in ein Frauenhaus habe flüchten müssen; so schlimm habe ihr Vater, István Kelemen, gewütet. Als die empörte Ehefrau die MA11-Verantwortliche später zur Rede stellte, wie sie dazu kämen, etwas derart Ungeheuerliches zu behaupten, antwortete die Sozialarbeiterin seelenruhig: Dies habe sie, Nadia Kelemen, doch selber erzählt!
Wahrscheinlich muss bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal jemandem irgend eine böse Absicht unterstellt werden. Die beiden Gesprächspartner werden sich schlicht nicht über die Tücken ihrer allzu menschlichen Kommunikation bewusst gewesen sein und bemerkt haben, wie Sender und Empfänger komplett aneinander vorbei reden. Insbesondere wenn das Thema, um das es der Anruferin ging, als äusserst heikel anzusehen ist. Da ist es bestimmt angenehmer, um den heissen Brei herum zu reden, als allzu deutlich werden zu müssen. Vielleicht liegt das sogar nahe, wenn am anderen Ende der Leitung ein Mittagessen zubereitet wird und noch nicht einmal klar ist, ob der mutmassliche Täter ebenfalls in jener Küche steht.
Eigentlich auch gar kein Problem: Schliesslich sind die MitarbeiterInnen der MA11 Profis. Das österreichische Gesetz und die internen Richtlinien bieten bei Vorwürfen dieser Tragweite schließlich genug Vorgaben zur genauen Abklärung und zur Vermeidung jedes Missverständnisses.
Zudem betont die MA11 die Wichtigkeit des „Vier-Augen-Prinzips“ ausdrücklich. Allerdings wäre damit natürlich die gleichzeitige Anwesenheit von zwei Personen bei wichtigen Gespräch gemeint. Mit der vermeintlich „Betroffenen“ sprach hier aber nur eine einzige Person, welche das dann später der nächsten Person berichtete. Aus dem „Vier-Augen-Prinzip“ war somit eine „Stille Post“ geworden, die sich über eine Nachrichtenkette von mindestens drei verschiedene Stationen spannte, wenn nicht sogar mehr. Im Gegensatz zum altbekannten Kinderspiel wurde hier jedoch überhaupt nichts aufgelöst oder verifiziert: Die letzte Station (welche dieses Gespräch in die Akten „protokollierte“) hat sich niemals bei der ersten Station rückversichert, ob diese schwerwiegenden Aussagen so ihre Richtigkeit hätten.
Die Leiterin des Gymnasiums wird die dortige Beschreibung ihrer kurzen Unterhaltung übrigens gar nie zu Gesicht gekriegt haben. Denn ansonsten wäre ihr als Lehrerin aufgefallen, dass der folgende – in der Dokumentation exakt so niedergeschriebene! – Satz schlicht unvollständig bleibt und daher überhaupt nicht zu verstehen ist: „Seitens der Schule erfolgte eine Kontaktaufnahme mit der Mutter die seine bestätigt und um Unterstützung ersucht hat“
Es ist daher anzunehmen, dass die Schuldirektorin bis heute gar nie erfasst hat, welche fatalen Ereignisse sie mit diesem Telefongespräch in Gang setzte. Sie wird sich durch die kurze Unterhaltung mit Nadia Kelemen sowieso in ihrer bereits gehegten Befürchtung bestätigt gefühlt haben, dass mit dieser Familie etwas nicht stimmt. Spätestens als die beiden Kinder dann im Krisenzentrum fest saßen und von dort nicht mehr zu den Eltern zurück durften, muss aus dem schwerwiegenden Verdacht Gewissheit geworden sein. – Was ja auch kein Wunder ist, weil:
Eigentlich ist es vollkommen ausgeschlossen, dass eine österreichische Behörde Eltern die eignen Kinder entreißt, wenn es keine guten und gewichtigen Gründe dafür gibt.
Lesen Sie in der nächsten Folge, wie es zur Annahme, es herrsche „Gewalt in der Familie“, kam.
- auf die Verwendung anderer Namen zum Persönlichkeitsschutz wird, in Absprache mit allen Mitgliedern der Familie Kelemen, verzichtet, da der ORF in einer „Thema“-Sendung von 2018 die Namen aller Beteiligten sowieso schon preisgegeben hatte.
Mehr dazu:
Hat das Jugendamt eigentlich mit dem dreizehnjährigen Buben gesprochen? Nach Art. 12 der Kinderrechtskonvention muß die Aussage und Meinung („Partizipation“) des bald mündigen, also verständigen Kindes eingeholt und beachtet werden.
Sofern ich das richtig verstanden habe (die Thema-Sendung von 2018 ist noch auf youTube) ist der Sohn, der das Ganze ins Rollen gebracht hat, schnell wieder nach Hause gelassen worden, während der Jüngere dies bis 2019 nicht durfte, weil es dort viel zu gefährlich für ihn sei! Weil der Ältere offenbar angehört wurde (der Jünger dagegen nicht?).
Wieso es für den Einen – noch dazu, derjenige, der die Situation verursacht hat – am gleichen Ort ungefährlich sein soll, der für den Anderen viel zu gefährlich bleibt, kann ich nicht verstehen.
Im Artikel von Fass-ohne-Boden findet sich übrigens ein Parlamentarische Anfrage der Liste Pilz zum Thema:
https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVI/J/J_03819/fnameorig_759240.html
Also ich verstehe nicht wie sich solche Beamten noch in den Spiegel schauen können.
Wäre die Frage nicht vielmehr:
Wie ist es möglich, dass Gesetze und Richtlinien keinerlei Gültigkeit für diese Leute zu besitzen scheinen?
Es verlangt ja noch nicht mal jemand, dass diese Menschen einen Grundahnung davon haben, wie Grundrechte zustande kommen und was das – ganz allgemein – zu bedeuten hat; also von wegen „in dubio pro reo“ etc.
Es würde vollends genügen, wenn die einfach bloss ihre EIGENEN Richtlinien und die bestehenden Gesetze beachten würden.
Wenn die dagegen frisch-fröhlich dagegen verstossen können und weder Judikative noch Exekutive irgend etwas zu bemängeln hat, dann ist das nichts, was bloss zwischen Spiegel und den Fehlbaren abgeht.
So lange alle bloss finden: – Was geht uns das an? … Müssen wir uns nicht wundern, wenn immer mehr Politikverdrossenheit und Verschwörungsvernarrtheit aufkommt. Und wo wir uns schon gar nicht mehr wundern sollten: Falls wir plötzlich selber Opfer von Behördenwillkür werden und nichts (mehr) tun können.