Die US Wahl aus der Perspektive von Amerikanern

Von Melina Heidecker

Die US-Wahl aus der Perspektive von AmerikanerInnen

Am 2. November wird Wien von einem Terroranschlag erschüttert, am 3. November beginnt das politische Erdbeben in Washington. Eine turbulente, herausfordernde Zeit. Auch hier schienen die meisten (an)gespannt auf das Ergebnis der Präsidentschaftswahl zu warten. Da stellt sich die Frage: Wie erlebten die US-AmerikanerInnen die vielleicht spannendste Wahl bis dato? Die nächsten Tage werden verschiedene Interviews erscheinen, in denen verschiedene Perspektiven vorgestellt werden. Den Anfang macht Kelly, eine 27-jährige Lehrerin aus New York. Morgen erzählt Steph aus Santa Monica, Kalifornien, wie sie die Wahl erlebt hat. Danach folgt Kent, aus Ridgefield, Connecticut, am nächsten Tag Jane, aus New York City und den Abschluss machen Eugene, aus Bellevue, Washington State und Brian, auch aus Ridgefield, Connecticut.

Kelly, New York City, New York:

1. Wie hast du den Wahltag erlebt?

Da ich Lehrerin bin, habe ich am tatsächlichen Wahltag gearbeitet, aufgrund der Corona-Pandemie ist meine Schule auf digitalen Unterricht umgestiegen. Ich habe bereits am Samstag, den 25. Oktober, meine Stimme früher abgegeben und es war verrückt. Das System funktioniert so, das du aufgrund deiner Adresse dein Wahllokal herausfinden kannst. Ich bin vor kurzem in die 36th Street und 9th Avenue in Midtown gezogen, ziemlich in der Nähe des Empire State Building, daher war mein Wahllokal der Madison Square Garden, das riesige, gigantische Konzerthaus.

Die Wahlurnen öffneten um 10 Uhr morgens, und ich Idiot bin leider genau dann hingegangen. Als ich dort ankam, ging die Warteschlange mindestens einmal um den gesamten Madison Square Garden und einige Blocks weiter, vielleicht war sie sogar noch länger. Ich wäre beinahe wieder gegangen, jedoch wollte ich es nicht riskieren, nicht früher meine Stimme abzugeben, daher entschied ich mich zu bleiben. Ich habe mindestens fünf Stunden lang gewartet, um 10 Uhr morgens hab ich mich in die Warteschlange gestellt, als ich meine Stimme abgab war es 15 Uhr 30. Während der Wartezeit habe ich ein Buch am Handy gelesen sowie meine Familie und Freunde angerufen. Sehr viele Leute haben die Wartezeit durchgestanden, ich habe ein paar Leute gehen sehen. Eine Frau, die direkt vor mir stand, ging nach ungefähr einer Stunde. Aber die meisten der über tausend Menschen, die darauf warteten, ihre Stimme abzugeben sind geblieben, es waren alle Alters- und Geschlechtergruppen vertreten, jeder hat einfach gewartet. Ich stand hinter diesem älteren Mann, der glücklicherweise nicht allzu viel geredet hat, aber hie und da haben wir ein paar Worte gewechselt. Als wir nach vier Stunden Wartezeit endlich an den Treppen des Madison Square Garden angekommen sind, drehte er sich um, zwinkerte mir zu und meinte: „Ich glaube, ich komme morgen wieder.“ Im Allgemeinen schien die Stimmung gut zu sein, bei dieser Wahl stand so viel auf dem Spiel, dass die Leute wirklich wählen wollten. Einige Freiwillige haben die Wartenden mithilfe von Schildern mit Sprüchen wie „Danke für deine Stimme“, „Deine Stimme ist wichtig“ und „Danke, dass ihr weiterhin ansteht“ motiviert. Ich denke, viele waren auch besorgt, dass einige Wähler wieder nach Hause gehen, ohne die Stimme abzugeben. Was wirklich verrückt war ist, dass von den normalerweise 15 vorhandenen Ticketschaltern, welche für den Securitycheck und die Ticketausgabe im Madison Square Garden verantwortlich sind, nur drei geöffnet waren. Durch George Floyds Tod und den darauffolgenden Protesten ist vielen Leuten klar geworden, wie ungerecht unser System ist, das Thema der Wahlunterdrückung ist in den Mainstreamkonversationen angekommen und ich denke, dass dies (Anm.d.V.: die geringe Anzahl der offenen Schalter) eine andere, latente Form der Wählerunterdrückung ist.

Wenn es dich einen halben Tag kostet, nur um deine Stimme in die Wahlurne zu werfen, ein Vorgang, der eigentlich fünf Minuten dauert, ist das auch eine Art der Unterdrückung. Dieses Erlebnis hat mich zum Nachdenken gebracht, darüber, dass die Stimmabgabe in unserem Land auf mehr als nur eine Weise erschwert wird.

2. War diese Wahl für dich spannender als die bisherigen Wahlen?

Definitiv! Ein Großteil der Bevölkerung, vor allem junge Leute in unserem Alter, sind endlich aufgewacht und haben erkannt, wie wichtig es ist, seine Stimme abzugeben und was für entsetzliche Ungerechtigkeiten viele Menschen in unserem Land täglich erleben müssen. In den letzten vier Jahren hat Trump furchtbare Dinge gesagt und getan, die indirekt oder direkt den Alltag von vielen unterdrückten Gruppen beeinflusst hat. Wenn Trump wiedergewählt worden wäre, hätte er den unterdrückten Gruppen viele Rechte genommen und ich denke, viele Menschen haben das erkannt und realisiert, dass es hier nicht mehr nur um Politik geht, es geht um Leben und Tod. Es hat sich tatsächlich so angefühlt, vielen meiner Freunde und Arbeitskollegen ging es genauso. Es herrschte eine Atmosphäre von Angst und Dringlichkeit.

3. Hast du ein Ritual, wie du die Präsidentschaftswahl verbringst?

Nicht wirklich, aber das nächste Mal werde ich auch wieder früher wählen gehen, Snacks und Getränke mitnehmen, meine Freunde treffen und einen besonderen Tag daraus machen.

4. Wie ist die Atmosphäre in deiner Gegend?

Ich würde sagen, dass die Atmosphäre in den letzten vier Jahren, aber vor allen in den letzten sechs Monaten, nach dem Tod von George Floyd, angespannt war, definitiv nicht relaxed. Als die Wahl näher kam und die Wahldebatten anfingen, hat sich die Atmosphäre für meine Freunde und mich leicht verändert. In meinem Freundeskreis ist kein einziger Trump-Anhänger, wir haben die letzten vier Jahre damit verbracht, uns über ihn und seinen Twitter Account lustig zu machen. Aber im Sommer, nach Floyd und den Protesten, verlagerte sich die Wahrnehmung von „Er ist so ein Idiot“ zu „Er ist wie ein Diktator, wir müssen ihn rausbekommen, es wird wirklich ernst“. Der Moment, in dem ich den Ernst der Lage erkannt habe, war während der ersten Präsidentschaftsdebatte mit ihm (Anm.d.V.: Trump) und Biden, es war ein absolutes Desaster. Schlimmer wurde es jedoch, als Trump sich weigerte, sich gegen die „White Supremacist“ auszusprechen und ihnen dann noch im nationalen TV-Sender sagte, sie sollen bereitstehen. Ich wusste schon immer, dass er ein Rassist und fremdenfeindlich ist, einfach eine schreckliche Person an sich, aber in diesem Moment war es einfach nicht mehr lustig. Das war der Moment als sich meine Einstellung von „Er ist einfach nur lächerlich“ zu „Er ist ein Diktator und Menschen werden wegen ihm sterben“ veränderte. Und es sind ja bereits viele Menschen seinetwegen an Covid gestorben. Für mich persönlich ist diese Wahl so viel mehr als nur eine politische und ich denke, dass es vielen ebenfalls so ergangen ist. Diese Wahl war, und hier stimmen mir sicher viele, vor allem ältere Wähler zu, wahrscheinlich eine der am meisten polarisierenden Wahlen bisher. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass wenn jemand nichts tut, das Trump von der Wiederwahl abhält, sich diese Person mit Rassismus, Homophobie und Sexismus verbündet. Trump-Anhänger sind wie ein Kult und das ist gefährlich.

5. Wie findest du das Wahlergebnis?

Ich denke das Ergebnis ist absolut wundervoll! Ich habe es letzten Samstag erfahren, einige Arbeitskollegen von der Schule und ich haben freiwillig einen Park in der Nähe gesäubert, als wir gegen 11 Uhr morgens, alle in der Arbeitskleidung und mit den Müllsäcken in der Hand, plötzlich Klatschen und Jubeln hörten. Zuerst vermutete ich, dass es ein Protest ist, denn diese finden täglich in NYC statt, doch dann fingen plötzlich die Handys von allen an, wie verrückt zu vibrieren und jeder rief nur noch: „Biden hat gewonnen!“. Wir haben sofort beschlossen, dass der Park nun sauber sei, sind aus dem Park gerannt und haben uns den Leuten angeschlossen. Ich war in Harlem und die Atmosphäre war einfach nur elektrisierend, da jeder anfing auf der Straße zu singen und zu tanzen, Menschen spielten Musik von ihren Fensterbrettern, einige schlugen mit Kochlöffeln auf Töpfe. Wir waren auf dem Frederic-Douglas-Boulevard in der 116th Street, alle Kellner und Barkeeper kamen aus den Restaurants und fingen an mit Champagnerflaschen herumzuspritzen, jedes Auto das vorbeifuhr hupte und die Leute haben gefeiert, gelacht und geweint. Danach sind wir zum Washington Square Park gefahren, eine berühmte Gegend, da wir wussten, dass es dort verrückt werden wird und wir waren tatsächlich von zwei Uhr nachmittags bis Mitternacht dort und haben gefeiert. Es kamen immer mehr Leute, jeder hatte ein „Biden/Harris“-Schild und es war magisch. Ich glaube niemand von uns hat realisiert, wie lange wir den Atem angehalten haben. Zudem habe ich nicht realisiert, wie pessimistisch ich war, da ich, und ich war nicht die Einzige, vom bisherigen Wahlergebnis geschockt war. Das zeigt erneut, wie entmutigt die Menschen waren, denn abgesehen von der Tatsache, wie viele Leute eine (sehr) tiefe Abneigung gegenüber Trump haben, waren wir alle hoffnungslos und dachten, er wird erneut gewinnen. Ich denke für viele Leute auf der ganzen Welt sind die Dinge in letzter Zeit hoffnungslos gewesen und der Sieg von Biden ist eine wundervolle, kurze Erleichterung bevor die richtige Arbeit beginnt. Denn die Leute, die jubeln und sagen: „Wuhu, Biden hat gewonnen, jetzt können wir zurück zur Normalität“ liegen falsch. Wir haben immer noch so ernste Probleme in unserem Land, an denen noch gearbeitet werden muss, insbesondere mit Rassismus und Homophobie in Bezug auf rassistische und soziale Gerechtigkeit. Mit Biden und Harris wird diese Arbeit möglich sein, jedoch hoffe ich auch, dass die Leute nicht vergessen, dass noch viel zu tun ist und das Ergebnis zu knapp war, um sich darauf auszuruhen. Ich habe in einem Artikel gelesen, dass rund 55% der weißen Frauen Trump unterstützt haben, was einfach nur ekelhaft ist. Diese Wahl hat wirklich das Schlechteste aus den Leuten heraus geholt. Aber sie hat auch die ganze Kraft hinter der harten Arbeit und Organisation von schwarzen Frauen gezeigt, denn sie haben die Abstimmung gewonnen, sie sind der Grund, weshalb Biden unser neuer Präsident ist und ich hoffe sehr, dass er allen People Of Color die Wiedergutmachung, Heilung und Gerechtigkeit gibt, die sie verdienen.

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