Von Albert Wittwer
Keine Angst, hier erfolgt keine Einführung in den Rechtspositivismus und noch weniger in die Geheimnisse des Naturrechtes. Obwohl das Recht zwischen diesen Polen unvermeidlich pendelt.
Die US-amerikanische Verfassung gibt uns Rätsel auf. Auch die Schweizer Verfassung. Und unsere Eigene. Es ist von unserer natürlich hochobjektiv begründeten, persönlichen politischen Einstellung abhängig, wie sehr wir mit ihr übereinstimmen, sie als gut oder elegant empfinden. In den letzten Jahren haben das US-amerikanische Volk und auch das Schweizer jeweils klare Mehrheiten gebildet, die sich im Wahlverfahren oder Abstimmungsverfahren als unzureichend erwiesen. Bei der Wahl des ungern scheidenden Präsidenten und der Konzernverantwortungsinitiative kann man das beobachten.
Es beschleicht mich ein ungutes Gefühl, wenn der Wählerwille durch „Wahlmänner“, die keineswegs an das Wahlergebnis gebunden sind oder durch das „Ständemehr“ umgedreht oder verwässert wird. Die kleinen ländlichen Kantone in der Schweiz sind nunmehr überrepräsentiert, was zur Abwertung der Stimmen in städtischen Agglomerationen führt. In Österreich hat der Verfassungsgerichtshof der direkten Demokratie am Beispiel der Volksabstimmung in Ludesch eine drastische Abfuhr erteilt. Auf Ebene der Länder und Gemeinden darf jedenfalls nur durch das Volk in Gesetzesform entschieden werden, wenn das die gewählten Repräsentanten in den Gebietskörperschaften zuvor erlauben.
Im Sinne des Rechtspositivismus sind die genannten Ergebnisse zweifellos korrekt zustande gekommen. Eine wesentliche Funktion des Rechtes besteht darin, in einem transparenten Verfahren Entscheidungen herbeizuführen, so daß der bloßen Machtausübung und Willkür ein Riegel vorgeschoben ist. Das ist in Bezug auf die Staatsmacht oder die Wirtschaftsmacht und zur Bekämpfung mafioser Strukturen von größter Bedeutung. Oder um Streitigkeiten im Rahmen eines förmlichen Verfahrens „unblutig“ zu entscheiden. Ob jeder Betroffene dann zum Ergebnis ein gutes Gefühl hat, es als gerecht empfindet, ist demgegenüber zweitrangig.
Nach meinem Dafürhalten stellt das Naturrecht dagegen stark auf dieses Gefühl ab. Man sieht das deutlich u.a. beim Schwangerschaftsabbruch, bei der Sterbehilfe, beim Kopftuch-Gebot.
Das real gelebte Recht ist immer einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Es wird angesichts der Veränderungen in den globalen wissenschaftlichen Techniken, der Wirtschaftsbeziehungen und des überwältigenden menschengemachten Umwelt-Impaktes nicht angehen, so zu tun, als sei es unwandelbar. Besonders die Abwägung der Rechtsgüter steht in der Tradition der Aufklärung unter dem Einfluß wissenschaftlicher Erkenntnis. Am wenigsten überzeugt der Hinweis auf die „Verfassungsväter“, die vor hundert, hundertsiebzig oder zweihundertvierzig Jahren etwas normiert haben, das sich in der Vergangenheit, unter anderen Umständen, durchaus bewährt haben mag. Es ist hoch an der Zeit, auch die „Verfassungsmütter“, an der maßvollen Fortentwicklung der Verfassung zu beteiligen.
Anmerkungen:
Die Verfassungen wurden und werden durchaus abgeändert und ergänzt. Beispielgebend für viele andere war die US-Verfassung aus 1787 mit zahlreichen Ergänzungen, die damals beispielhaft Demokratie, Gewaltenteilung und Grundrechte für die Staatsbürger normierte.
Die beiden Schweizer Referenda vom November, keine Ausfuhr von Kriegsmaterial an kriegsführende Staaten und Verantwortung der Konzerne mit Sitz in der Schweiz für Menschenrechte und Umwelt innerhalb ihres organisatorischen Einflußbereiches, sind dramatische Beispiele dafür, daß der Horizont der Stimmbürgerinnen und –bürger den der Regierung zu übertreffen vermag. Das Schweizer Volk hat über den Tellerrand der vermeintlich eigenen Interessen geblickt. Das Stimmenmehr zugunsten der Konzernverantwortungsinitiative hat die Diskussion über die Anpassung der Ständeratsmandate an geänderte Bevölkerungszahlen oder sogar die Frage, ob angesichts der heutigen hohen Integration und Verflechtung noch eine Gliederung in sechsundzwanzig Kantone richtig ist, belebt.
Die Österreichische Verfassung ist nicht etwa ein abgeschlossener Gesetzestext, sondern ein Konglomerat von zahlreichen Vorschriften in Verfassungsrang, in ihrem Kern das Bundesverfassungsgesetz 1920, das sich in Bezug auf die Pandemie und die Balance zwischen Einschränkungen der Freiheit und Bürgerrechten überaus bewährt hat. Außer dem Ausbau der direkten Demokratie halte ich es für erforderlich, die vielen Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft, die Österreich als ihre Heimat ansehen, stärker zu integrieren und ebenfalls am Prozess der politischen Meinungsbildung zu beteiligen. Außerdem könnte nach den bewährten Beispielen der Schweiz und Deutschlands (und anderer) die Doppelstaatsbürgerschaft ermöglicht werden.
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Volksabstimmung in Ludesch aufgehoben. Ist das Volk noch der Souverän? | gsi news (gsi-news.at)