Von Dr. Albert Wittwer
Unter heftigem Beifall hat das Portal Twitter dem gerade noch amtierenden US-Präsidenten den Zugang gesperrt. Über dieses Kommunikationsinstrument hat der schon vor seiner Wahl vor vier Jahren aktiv Politik gemacht. Und Heerscharen von recherchefaulen Redakteuren glänzend bedient. Sie konnten sicher sein, daß täglich aufregende und höchst unterhaltsame kurze Statements im Stil von „Fauci (führender Virologe) ist überfordert. Es gibt keine menschengemachte Klimaerwärmung. Kim Il Sung ist ein großartiger Kerl“ sprudeln werden. Darüber kann man in fünfzehn Minuten bei einem Espresso einen Artikel schreiben. Den Rest des Tages hat man dann frei.
Es liegt auf der Hand, daß das in Zeiten des Internet-Shitstorms eine Beschränkung der Freiheit der Meinungsäußerung darstellt. Das „Ich bin nicht deiner Meinung, aber ich werde bis zu meinem Tod dein Recht verteidigen, sie zu äußern“* wird in Gestalt der Rede- und Pressefreiheit in den USA besonders hochgehalten. Was wir reden, wer hört das schon, was wir schreiben, wer mag das drucken, wer wird es lesen? Also geht es doch um den Zugang zu diesen Internet-Medien. Wird mir der Zugang verwehrt, kann ich meine Wut zum Badezimmerfenster hinausrufen. Da bellt dann höchstens der Nachbarshund.
Ein Freund hat sich für zeitlich befristete Sperren ausgesprochen. Im Gegenstandsfall wird es für kausal und adäquat gehalten, daß die öffentliche Kommunikation zum Sturm auf das Kapitol mit vier Toten und zahlreichen Verletzten und zur Behinderung der parlamentarischen Arbeit geführt hat. Vielleicht hat das Strafrecht sogar in den USA dafür eine Art Landfriedensbruch-Paragraph. Dann könnte darüber ja ein unabhängiges Gericht nach seinem sorgfältigen Beweisverfahren unter Wahrung aller Verteidigungsrechte, die einem Milliardär zu Gebote stehen, entscheiden. Sowas wie ein Computer-Internet-Verbot soll es in den USA ja geben – bisher für Hacker. Und vielleicht vorab eine einstweilige Sperre des Accounts verfügen.
Oder darf man das Twitter überlassen? Vielleicht einem Algorithmus, gespeist von unparteiischer künstlicher Intelligenz? So wie wir von den sozialen Netzwerken, deren Mitglieder sind, nach unerforschlichem Ratschluß die Postings von manchen Freunden erhalten, von anderen aber doch nicht.
Der Kapitalismus tritt hier ganz offen zu Tage. Er veröffentlicht, was er will. Er ist nicht darauf angewiesen, mit Think-Tanks, bezahlten Professuren, Presseschaltungen, Parteienförderung seine Interessen zu artikulieren, auf daß sie unsere Meinungen und die Entscheidungen der politischen Verantwortungsträger prägen. Ein Prozess von atemberaubender Kürze, wie er ja vielen Kritikern des langwierigen Parlamentarismus vorschwebt. Davor möge uns unser waches Internet-Konsumverhalten und – wie schon öfter – die Europäische Union mit ihren Rechtsetzungsbefugnissen, die den Zugang zum größten Binnenmarkt der Welt regulieren, bewahren.
Anmerkung:
*)
“I disapprove of what you say, but I will defend to the death your right to say it.” Evelyn Hall in ihrer Biografin über Voltaires Haltung.