Von Albert Wittwer
Wie hypnotisiert starren sie auf das Wirtschaftswachstum. Die Staatenlenker messen daran den Erfolg ihrer glorreichen Führung. Es ist ein Synonym für Fortschritt. Das Wirtschaftswachstum wird nach der Steigerung des Bruttoinlandsproduktes, also der in Geld ausgedrückten Summe aller innerhalb einer Periode verkauften Waren und Dienstleistungen eines Landes, ausgedrückt.
Es ist erst seit dem zweiten Weltkrieg das Maß aller Ökonomie. Damals war die Welt noch heil. Die Märkte waren ungesättigt, Wohnungen, Autos, Möbel, elektrische Geräte, alles wurde gebraucht und produziert und gekauft. Und die Menschen suchten und fanden Arbeit. Das „Wirtschaftswunder“ ereignete sich. Die Politiker übernahmen gerne die Verantwortung für den Erfolg. Und seither versuchen die Kanzler und Wirtschaftsminister, es mit allerlei Zauber zu beschwören, zu steigern.
Schon im Jahre 1972 veröffentlichte der Club of Rome das epochale Buch „Die Grenzen des Wachstums“. Eines der Hauptthemen war und ist die Entkoppelung von Wohlstandsentwicklung und Ressourcenverbrauch.
Inzwischen ist das BIP hoch obsolet. Dennoch wird es ständig berechnet und verglichen. Als wenn man es messen könnte. Manche Systemfehler der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung sind schon altbekannt: Fahre ich das Auto zu Schrott, kaufe ich ein neues auf Kredit und zahle Zinsen. Breche ich mir das Bein, werde ich operiert, geschient, physiotherapiert. All das steigert vermeintlich das Inlandsprodukt.
Eine neuere Entdeckung ist, daß die Beseitigung vorsätzlicher oder „unvermeidlicher“ Umweltschäden ebenfalls zu Wachstum führt. Dagegen geht der Verbrauch von Ressourcen wie Wasser und Luft, Wälder, Meerestieren und Ackerboden und die vielen Fußballfelder an Fläche, die täglich in Österreich versiegelt werden, der Rückgang von Insekten dank Insektiziden, das Artensterben nicht in die Rechnung ein. Als kostete das alles nichts. Es ist ein ähnlicher Irrtum, wie wenn ich mich für reich halte, weil die Geldtasche voll Geld oder noch schlimmer, der Account von Bitcoins überquillt. Derweil wüten vor der Haustüre Trockenheit, Überschwemmung und Feuersbrunst.
Die großartige Erfindung von Luca Pacioli (1499), die doppelte Buchführung, kann angeblich nicht auf die Volkswirtschaft übertragen werden. Nur sie könnte eine Netto-Wohlstandsveränderung abbilden. Ein Wohlstand, der nicht bloß Gehälter, Wareneinsatz und Gewinne, sondern auch die Lebensbedingungen für Menschen, Fauna und Flora mit einschließt und auch fair verteilt ist.
Schätzungen zufolge betragen die Ökosystemleistungen der Natur nur das Doppelte aller weltweit von Menschen erzeugten Güter und Leistungen. Dabei ist schon die Idee dieses Vergleiches absurd, denn wieviel darf denn die Luft kosten, die wir zum Atmen brauchen? Wieviel das Wasser, das wir trinken?
In der Anbetung des goldenen Kalbes verlor das Volk seine Orientierung. Es geriet in die Gefahr, ausgelöscht zu werden, zu verderben. Aber wir werden von Kindern gerettet. Der Protest der schulstreikenden Teenager ist in den Parlamenten und bei den Gerichten angekommen. Daher zwei beispielhaft gute Nachrichten:
* Das deutsche Verfassungsgericht erklärte über Klage von Fridays-For-Future das deutsche Klimaschutzgesetz für verfassungswidrig. Das Gesetz verschob die CO2-Reduktionen zu weitgehend in die Zukunft, um die Gegenwart vor drastischeren Maßnahmen zu verschonen.
* Das Bezirksgericht Den Haag hat festgestellt, daß der Öl- und Erdgaskonzern Shell „eine Regel des ungeschriebenen Rechts in Bezug auf angemessenes soziales Verhalten“ verletzt und ihn verurteilt, seinen Treibhausgasausstoß bis 2030 um 45 Prozent zu senken.
Wir können wohl bald aufatmen!
Anmerkungen:
Zweifellost ist es der Staat oder in Europa die EU, die die Rahmenbedingungen für „Wohlfahrt“, darunter nachhaltiges Wirtschaften, bereitstellen. Sh. neben vielen anderen David Landes: Reichtum und Armut der Nationen.