Das Morden dauerte fünf Monate und erfolgte auf direkten Befehl von Ayatollah Khomeini. In den frühen Morgenstunden des 29. Juli 1988 nahmen hinter den Toren von Irans Gefängnissen eigens eingerichtete Sondergerichte ihre Arbeit auf. Im Akkord verurteilten sie inhaftierte Volksmujaheddin und linke Oppositionelle zum Tod durch den Strang. Zu sechst wurden die Gefangenen mit verbundenen Augen an den Galgen geführt, man schlang ein Seil um ihren Hals und zog es hoch, um sie zu ersticken. Der Todeskampf der Delinquenten dauerte Minuten, manchmal eine Viertelstunde lang. Die Zahl der Opfer geht in die Tausende, wie viele es genau waren, ist nicht bekannt.
Einer der Hauptverantwortlichen: Ebrahim Raisi, damals stellvertretender Generalstaatsanwalt von Teheran und heute Präsident der Islamischen Republik Iran. »Kein Präsident vor ihm war so direkt in die Verfolgung der Gegner des Regimes verwickelt, und keiner hat so viel Blut an den Händen wie Raisi«, kommentierte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) dessen Wahlsieg. Auch nach den Morden von 1988 war Raisi als Justizchef für tausende Todesurteile verantwortlich.
Seit gestern steht in Stockholm Hamid Nouri wegen der Massenhinrichtungen von 1988 vor Gericht. Nouri war damals Assistent des stellvertretenden Staatsanwalts im Gefängnis Gohardasht westlich von Teheran, stand also in der Hierarchie deutlich unter Raisi.
Fünf Tage vor dem Beginn des Prozesses gegen Nouri wurde Raisi als neuer Präsident der Islamischen Republik Iran vereidigt. Bei der Angelobung prominent in zweiter Reihe, unmittelbar hinter Vertretern der Hamas, des Palästinensischen Islamischen Dschihad und der Hisbollah: Enrique Mora, der zweithöchste Außenpolitiker der Europäischen Union.
Der Sprecher des israelischen Außenministeriums, Lior Haiat, kritisierte scharf, dass die EU durch die Teilnahme an Raisis Angelobung »dem iranischen Angriff und der Aggressionspolitik der Regierung der Ajatollahs Legitimität verleiht«. Erst zwei Tage davor waren beim Angriff einer iranischen Drohne auf einen Öltanker vor der Küste Omans ein Brite und ein EU-Bürger getötet worden. »Schmeicheleien und Unterwürfigkeit gegenüber gewalttätigen und totalitären Regimen führen nur zu weiterer Gewalt und Aggression«, warnte Haiat.
Auch neun Mitglieder des Europaparlaments, darunter der Österreicher Lukas Mandel (ÖVP), kritisieren in einem offenen Brief die Haltung der EU zum Iran. »Die Entsendung eines so hochrangigen Vertreters zur Amtseinführung eines Präsidenten mit einer derart dunklen Vorgeschichte zu diesem sensiblen Zeitpunkt widerspricht den europäischen Verpflichtungen, die Menschenrechte zu wahren und für sie einzutreten«, schreiben die Abgeordneten. Der schwedische Europaabgeordnete David Lega, der den Brief initiiert hatte, nannte die Entsendung von Mora »ein völlig falsches Signal an den Iran«.
Möglicherweise ist das der Beginn einer längst überfälligen Debatte über den diplomatischen Umgang mit aggressiven, diktatorischen Regimen. Zwischen miteinander reden und Ehrerbietung gibt es eine Grenze, die von Anstand und Geschichte gezogen wird. Es verbietet sich für österreichische und deutsche Staatsoberhäupter ganz einfach, den Ayatollahs beste Glückwünsche zum Jahrestag der Errichtung ihrer Diktatur zu senden, die von Beginn an von der Mission ihres Gründers getrieben war, die Islamische Revolution in einem globalen Heiligen Krieg in die ganze Welt zu tragen – so wie es sich verbietet, Kränze vor dem Grab des Judenmörders Yassir Arafat niederzulegen. Und es verbietet sich für die Europäische Union, die nicht müde wird, sich als Wertegemeinschaft zu bezeichnen, ein Regime zu legitimieren, das die eigenen Bürger unterjocht, Israel zu vernichten droht, europäische Politiker ins Visier genommen und Terroranschläge auf europäischem Boden geplant und finanziert hat.
Von Thomas M. Eppinger
Thomas M. Eppinger leitet den Wiener Nahost-Thinktank Mena-Watch (https://www.mena-watch.com), der täglich Analysen und Kommentare renommierter Experten und Autoren zu aktuellen Entwicklungen im Nahen Osten und Nordafrika veröffentlicht.