Von Albert Wittwer
Korona und Klima, Überschwemmung und Waldbrand, unheilige Zwillinge, sie haben uns eingeholt, die Außengrenzen Europas überwunden, die Festung betreten. Sie sind Früchte unseres Wirtschaftens, unseres Konsumierens, der Übernutzung der Natur und unseres protestantischen, verirrten Arbeitsethos. Längst haben sich China und Indien dazugesellt. Wir betrachten sie, unsere verinnerlichte aktuelle Lebensform, als zwangsläufig und alternativlos. Wir halten es für Freiheit, im Supermarkt die Wahl unter zwanzig Kaffeesorten zu treffen, unmöglich sie alle auszuprobieren, entscheiden abwechselnd nach Preisschild und Werbung. Ebenso alternativlos erscheint uns die Lohnarbeitspflicht bis bald Siebzig und das für eher fünfzig Stunden pro Woche.
Die Think-Tanks der Konzerne loben unsere individuelle Freiheit. Sie fürchten nichts so sehr wie die staatliche Regulierung. Daher appellieren sie an unsere ökologische Verantwortung – wohl wissend, daß wir unmöglich das Kleingedruckte all dessen, was wir kaufen, wenn es denn stimmte und vollständig wäre, lesen und verstehen können. Versteckt hinter der Freiheit des Einzelnen verfolgen sie ihre Agenda: Ihre Umsatz- und Gewinnziele, von Nachhaltigkeit unbehelligt, zu optimieren. Und Kapital zu akkumulieren. Als könnte man es eines Tages atmen, essen, trinken und darin wohnen – wenn es denn fair verteilt wäre.
Eine Variante der Illusion der Freiheit des Einzelnen zeigt sich in der Corona-Impfdebatte. In einer rundum, von Geburt bis zum gründlich administrierten Tod im Pflegeheim, man beachte den strafrechtlich eingehegten Freitod, befinden wir uns in einer kommerziell und staatlich strukturierten Umgebung. Und doch wird das lmpfen zum Freiheitssymbol. Noch versuchen die Regierungen mit „nudging“ die Impfbereitschaft durch absurde Anreize zu steigern. Arbeitsrechtlich ist die Sache – bis zum Beweis des Gegenteiles – klar. Wer seinen Beitrag zum Schutz der Mitmenschen, Kunden und Arbeitskolleginnen, nicht leistet, darf diskriminiert werden. Sich selber mag der Impfabstinente gefährden, wenigstens bis zu der Grenze, ab der er vom Amtsarzt – wegen Selbstgefährdung – in die Psychiatrie zwangseingewiesen wird. Ähnliches gab es schon für weibliche Hysterie und kommunistische Häresie, Abfall vom dialektischen Materialismus; beides aber nicht für Werktätige, eher Angehörige der jeweiligen Oberschicht.
Jetzt müssen wir einen unerhörten Balanceakt bewältigen. Unsere Gesellschaft hat den bloßen Utilitarismus – die Verfolgung des größtmöglichen Nutzens für die größte Zahl von Menschen, auch in der Corona-Krise – teilweise überwunden. Man wollte die Schwachen nicht exponieren. Ob die Alten über Gebühr „geschützt“, die Schulkinder überschießend aus der Schule, Kunstschaffende in die Internet-Wüste verbannt wurden, mag man diskutieren. Immerhin geschah es in bester Absicht.
Jetzt ist, wenn nicht ein Verbot, so doch eine hohe Besteuerung des Einsatzes fossiler Energie unvermeidlich. Das wird unser aller Leben drastischer verändern als Corona. Die Verteuerung schlägt auf den Verkehr, auf die industrielle und gewerbliche Fertigung, die Beschäftigung und auf alle Preise und Löhne durch. Da ist dann wirklich nichts mehr wie zuvor.
Wer fromm ist, möge beten, daß unsere Demokratie das bewältigt, diesen beispiellosen Diskurs zwischen den Kampagnen der milliardärsfinanzierten Think-Tanks im Westen, der Trollfabriken aus dem Osten und den machtsüchtigen Populisten.