Von Albert Wittwer
Tun wir aus eigenem Antrieb das Richtige, unterlassen wir das Falsche? „Daß etwas moralisch gut ist, muß nicht jedem auffallen.“ 1)
Es ist offensichtlich, daß auch der demokratische, freiheitliche Rechtsstaat unser Leben auf ganz umfassende Weise regelt und uns, Sie verzeihen, eigentlich nur einen schmalen Bereich von Wahlfreiheit überlässt; weit davon entfernt, daß jeder sich seine individuellen Regeln zusammensucht und nach Lust und Laune befolgt. Von der Mutter-Kind-Untersuchung über Schul- und Wehrpflicht, der faktischen Arbeitspflicht, dem zwangshaften Arbeitsverbot für ältere Menschen bis zum sehr gründlich administrierten und bewirtschafteten Ableben haben wir – im Rahmen unserer Kreditwürdigkeit – vor allem eine skurrile Konsumfreiheit, die wir mit Freiheit schlechthin verwechseln.
Die Konsumfreiheit hat eine übergroße, heimliche Schwester: Die Freiheit, zu produzieren, was die Kunden angeblich wollen. Die wissen zwar nichts von ihrem Glück, bis ihnen die Werbung, neudeutsch die Influencer, erklärt haben, was ihnen wirklich fehlt.
Das Produzieren erfolgt ohne Rücksicht auf Verluste – der Natur und der Menschenrechte – in und außerhalb von Europa. „Die rein ökonomische Globalisierung ergibt eine Negativbilanz, das heißt wir verlieren durch die Zerstörung des Ökosystems und seinen dadurch nötigen technologischen Ersatz mehr Wert, als wir überhaupt erzeugen.“ 2) Die Konzerninitiative, die das im Ansatz verhindern soll, ist in Österreich (und der Schweiz) kein Regierungsanliegen. Daß wir alle im gleichen Boot sitzen, ist trotz Hitze, Artenverlust und Dauerregen noch nicht bis dahinauf durchgedrungen. „Bei Einhaltung der Klimaziele der Europäischen Union „hat Österreich (Anmerkung: äußerst) großen Aufholbedarf.“ 3)
Wie schon früher dargestellt, ist die vermeintliche Konsum-Wahl-Freiheit des Einzelnen das Feigenblatt, um nicht in die Industrieproduktion oder gar den Individualverkehr eingreifen zu müssen. Lieber werden die monströsen Elektro-Hybrid-Sport-Utility-Vehikel schwer von Staat aus Steuergeldern subventioniert. Undenkbar ist es, die Haltbarkeit von Geräten über die zwei Jahre gesetzlicher Gewährleistung auszudehnen, lieber neu kaufen und alt wegschmeißen. Insgeheim sichert das zwar Arbeitsplätze. Die Arbeitsplätze von wohlmeinenden, gutwilligen Werktätigen, die keinen Gedanken daran verschwenden, daß ihr Arbeitsbeitrag mehr Schaden als Nutzen stiftet. Immerhin verdienen sie gut. Und wer nicht gut verdient, kann nicht so recht an Konsum teilnehmen und ist daher – ob freiwillig oder nicht – ein gesellschaftlicher Außenseiter, ein belächelter Kunstschaffender oder mißachteter Faulenzer, neudeutsch Looser oder beides.
Angesichts der gesellschaftlichen, gesundheitspolitischen Brisanz und der klaren wissenschaftlichen Evidenz ist es moralisch fragwürdig, daß die Regierung aktuell um die Corona-Impfpflicht herumeiert. Die Vorsitzende einer bedeutenden österreichischen Partei schlug vor, jedem Impfwilligen eine Prämie von hundertfünfzig Euro zu zahlen. 4) Als müßten wir dafür bezahlt werden, gesund zu bleiben. Allerdings toleriert die Regierung auch, daß „vorsorglich Antibiotika an Schlachttiere“ verfüttert werden und das Fleisch billig konsumiert werden kann. 5) Das schadet dem Immunsystem der Fleischesser zuverlässig und nachhaltig.
Ich halte dieses Konzept von Freiheit für unethisch. Ethisch und überlebenswichtig wäre es, die bedeutenden Parteien und ihre Galionsfiguren würden weniger auf ihre Beliebtheitswerte schielen, sondern unsere wohldefinierten Interessen ernst nehmen, sie transparent diskutieren und kommunizieren und Entscheidungen treffen, die nur von oben getroffen werden können. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ 6)
Anmerkungen:
Zweifellos war die Einführung der EU-Grundfreiheiten, darunter die Freiheit des Personenverkehrs und die Niederlassungsfreiheit, für jeden von uns ein gewaltiger Fortschritt. Die Freiheit für den Kapitalverkehr gab es selbstredend schon länger und er beinhaltet seit jeher auch die Schweizer Eidgenossenschaft.
1) und 2) Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten.
3) Großer Aufholbedarf beim Klimaplan: https://orf.at/stories/3227669/
4) Rendi Wagner: Impfprämie, Doskozil: gratis Lotterie für Spätimpfer.
5) Analyse der Tierhaltung Österreich: https://www.wien.gv.at/kontakte/ma22/studien/pdf/tierhaltung-analyse.pdf:
6) „Die Wahrheit…“ Ingeborg Bachmann