Rätselhafte digitale Kompetenz

Albert Wittwer im Weihertal

Von Albert Wittwer

Die Bundesregierung rollt Notebooks und Tablets an die Schüler aus. Ein Großteil der Jugendlichen ist sicher vorab internetaffin. Es soll ihnen – unter Anleitung kompetenter Lehrender – zu digitaler Kompetenz verhelfen.

Auf einem Laptop kann man immerhin noch so veraltete Techniken wie das Maschinenschreiben im Zehnfinger-System lernen. Das hat gegenüber dem Adler-Such-Systems mit zwei Zeigefingern sicher Vorteile. Aber mit dem Tablet? Ach ja, die neudeutsch Voice-To-Text-, Sprache zu Text- Programme machen das alles überflüssig. Wer das nicht einsehen kann ist sicher ein Digital-Naiv, Verzeihung kein Digital-Nativ.

Die geschäftliche Kommunikation der Erwachsenen findet überwiegend digital statt. Es gibt sicher wenige Menschen, die nicht mindestens fünf Passworte für Portale möglichst geheim notiert haben und über Handy-Tan-Codes und SMS bedienen. Dabei ist es sehr hilfreich, daß diese Portale, kaum hat man sich an eines gewöhnt, von den gutbezahlten Programmierern ständig verschlimmbessert werden. Gut, das gehört wohl zum lebenslangen Lernen. Da ist es schon naheliegend und oft praktisch, wenn die Lehrenden mit den Schulkindern auch über Portale kommunizieren.

Aber gewinnt man damit digitale Kompetenz – oder bloß Wisch-Kompetenz?

„Digitale Bildung bedeutet neben technischen Fertigkeiten auch digitale Medien kompetent und reflektiert nutzen zu können und ist eine Schlüsselqualifikation für die Teilhabe an der modernen Gesellschaft. Mit Daten bewusst und verantwortungsvoll umgehen und Informationsquellen kritisch bewerten zu können, zählt heute zu den Grundkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen…“*)

Lassen wir die technischen Fertigkeiten, das Programmieren, das Web-Design, das Ver- und Entschlüsseln, das Warten von Viren- und Trojaner-Filtern, den Austausch der Festplatte usw. mal beiseite. Dann bleiben die Soft-Skills: keine sensiblen Informationen posten, eigene Daten auf externen Speichern sichern u.ä. Soweit so gut.

Ab hier wird es schwierig: „Teilhabe an der Gesellschaft. Informationsquellen kritisch bewerten“.

Schwimmen lernt man zwar im Wasser. Aber ich habe einen schrecklichen Verdacht: Ohne Kompetenz in der realen Welt ist digitale Kompetenz nicht zu haben. Um sich aber in der realen Welt tragfähig zu orientieren, muß ich mich zuerst in ihr, in der „Welt der Dinge“, der Welt der Fakten, ausführlich aufhalten, orientieren, in ihr lernen: Grundlegende Kulturtechniken, Weltliteratur lesen, Blockflöte spielen, Figuren schnitzen, mit Aquarellfarben Bilder malen, Tischtennis oder Handball in Gruppen spielen, Kaninchen füttern. Von den Eltern und Lehrpersonen den Unterschied zwischen Meinung und erwiesenen Fakten und über die Grundlagen wissenschaftlicher Erkenntnis an möglichst vielen Beispielen erfahren.

Wie also erwirbt das noch unfertige Selbst die Fähigkeit, sich in der digitalen Schein-Welt zurechtzufinden, wenn zugleich – oder noch besser zuvor – ein tragfähiges Bild der realen Welt, das möglichst offen, von Kognitiver Dissonanz verschont bleiben möge, erst im Aufbau begriffen sein kann?

Nach Studien verbringen Kinder und Jugendliche zwischen zwanzig und siebzig Stunden pro Woche im Internet. In dieser Zeit gewinnen sie jedenfalls Wischkompetenz und werden auf tiefere Teilhabe an der modernen Konsum- und Spaßgesellschaft eingeschworen. Wohl deshalb schicken die digitalen Kapazunder im Silicon Valley ihre Kinder in weitgehend computerlose Schulen.

Anmerkungen:

*) Bundesministerium, Originalzitat: https://www.bmdw.gv.at/Themen/Digitalisierung/Wirtschaft/Digitale-Kompetenz.html

Wegen Einschränkung des analogen Internets durch Corona-Lockdowns: https://www.mckinsey.com/industries/public-and-social-sector/our-insights/teacher-survey-learning-loss-is-global-and-significant

Statt vieler anderer zwei Hinweise:

https://jamanetwork.com/journals/jamanetworkopen/fullarticle/2784337?utm_campaign=articlePDF&utm_medium=articlePDFlink&utm_source=articlePDF&utm_content=jamanetworkopen.2021.25860:

 „multiple online risk factors (including cyberbullying, violence, drug-related content, hate speech, profanity, sexual content, depression, and low-severity self-harm content)…“

Stern: High-tech-Eltern verordnen ihren Kindern eine Schule ohne Bildschirm: https://www.stern.de/digital/digtal-gap—die-armen-kinder-bekommen-tablets-zum-spielen–die-reichen-eine-gute-ausbildung-8634356.html

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