5.12.2021: Nachdem die internationale Presse abgezogen ist, hat in Afghanistan das große Morden angefangen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) berichtet von der Ermordung von über 100 ehemaligen Polizisten. HRW dokumentierte die Ermordung bzw. das Verschwinden von 47 ehemaligen Mitgliedern der afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte – Polizei, Militärpolizei, Geheimdienst und Milizen, die sich zwischen dem 15. August und dem 31. Oktober den Taliban ergeben haben oder von ihnen festgenommen wurden. HRW sammelte glaubwürdige Informationen von mehr als 100 Morden allein in den Provinzen Ghazni, Helmand, Kandahar und Kunduz.
„Die versprochene Amnestie der Taliban-Führung hat lokale Kommandeure nicht davon abgehalten, ehemalige Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte kurzerhand hinrichten oder verschwinden zu lassen“, sagte Patricia Gossman, stellvertretende Asien-Direktorin von Human Rights Watch.
Zum gleichen Ergebnis kommt Amnesty International. Entgegen den wiederholten Beteuerungen der Taliban, sie würden die Rechte der Bevölkerung respektieren, zeigt der AI Bericht !Afghanistan´s fall into the hands of the Taliban! eine Reihe von Menschenrechtsverletzungen auf, darunter gezielte Tötungen von Zivilisten und sich ergebenden Soldaten sowie die Blockade humanitärer Hilfslieferungen im Panjshir-Tal. Auch die Rechte von Frauen, die Meinungsfreiheit und die Zivilgesellschaft wurden erneut eingeschränkt. Dinushika Dissanayake, stellvertretende Direktorin von Amnesty International für Südasien meint dazu: „Angesichts des vorherrschenden Klimas der Angst, des Mangels an Mobilfunkverbindungen in vielen Gebieten und der von den Taliban erzwungenen Internetsperren stellen diese Ergebnisse wahrscheinlich nur eine Momentaufnahme dessen dar, was vor Ort geschieht.“
Die Vorgehensweise der Taliban zeigt die Verlogenheit dieser Terrorgruppe. Die Taliban-Führung hat Mitglieder kapitulierender Sicherheitskräfte angewiesen, sich zu registrieren, um einen Brief zu erhalten, in dem die Taliban ihre Sicherheit garantieren. Die Taliban-Truppen haben diese Untersuchungen jedoch genutzt, um Personen innerhalb von Tagen nach ihrer Registrierung festzunehmen und kurzerhand hinrichten oder gewaltsam verschwinden zu lassen.
Die Taliban haben auch Zugang zu den Arbeitsunterlagen, die die ehemalige Regierung hinterlassen hat. Damit identifizieren die Taliban Personen für die Festnahme und Hinrichtung. Nur ein Beispiel: Ende September gingen Taliban-Truppen in der Stadt Kandahar zum Haus von Baz Muhammad, der beim National Directorate of Security (NDS), dem ehemaligen staatlichen Geheimdienst, angestellt war, und nahmen ihn fest. Später fanden Verwandte seine Leiche.
Der Geheimdienst der Taliban in Helmand nahm Abdul Raziq, einen ehemaligen Militäroffizier der Provinz, fest, nachdem er sich Ende August ergeben hatte. Seitdem kann seine Familie nicht herausfinden, wo er festgehalten wird oder ob er noch lebt.
Ebenso ergeht es den Afghanen und Afghaninnen die sich für Menschenrechte einsetzten. Seit dem 15. August werden fast täglich Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger:innen gemeldet. Die Taliban suchen von Tür zu Tür nach Menschenrechtsverteidiger und ermorden diese dann.
„Die Bedrohung für Menschenrechtsverteidiger*innen, die nicht aus Afghanistan ausreisen konnten, ist real. Sie werden an allen Fronten angegriffen, da sie als Feinde der Taliban gelten. Ihre Büros und Wohnungen wurden gestürmt. Ihre Kollegen wurden verprügelt. Sie sind gezwungen, sich ständig zu verstecken. Sie leben unter der ständigen Bedrohung von Verhaftung, Folter oder Schlimmerem. Diejenigen, denen es gelungen ist, das Land zu verlassen, sitzen nun in Militärlagern oder in Nachbarländern fest, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollen und wie sie ihr über Nacht zerstörtes Leben wieder aufbauen können“, sagte Delphine Reculeau, Programmdirektorin für Menschenrechtsverteidiger bei der Weltorganisation gegen Folter (OMCT).
Trotz der zahllosen Bedrohungen haben Frauen im ganzen Land Proteste organisiert. Während einige Demonstrationen friedlich abgehalten werden konnten, wurden viele von den Taliban gewaltsam unterdrückt. Am 4. September wurden etwa 100 Frauen, die an einer Demonstration in Kabul teilnahmen, von Taliban-Spezialkräften auseinandergetrieben, die in die Luft schossen und Berichten zufolge Tränengas einsetzten. Nazir, ein Menschenrechtsverteidiger, berichtete Amnesty International wie sein Freund Parwiz von den Taliban schwer verprügelt und gefoltert wurde, nachdem er am 8. September an einer Demonstration für die Rechte der Frauen teilgenommen hatte. „Als die Taliban Parwiz freiließen, zwangen sie ihn, neue Kleidung anzuziehen, weil sein Gewand von seinem Blut durchnässt war.“ Schließlich erließ das von den Taliban kontrollierte Innenministerium am 8. September eine Anordnung, die alle Demonstrationen und Versammlungen in ganz Afghanistan verbot, „bis eine Demonstrationsverordnung erlassen wird.“
Menschenrechte gibt es in Afghanistan nicht mehr
Die Polizistin Zala Zazai berichtet: „Seit die Taliban wieder an die Macht gekommen sind, mussten die meisten Frauen in der Polizei zu Hause bleiben. Polizistinnen konnten nicht zur Arbeit kommen und viele mussten wegen der immanenten Bedrohung durch die Taliban fliehen. In den letzten Tagen habe ich gehört, dass die Taliban die Polizistinnen auffordern, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, aber in Wirklichkeit ist es nichts anderes als eine Falle. Einige der weiblichen Polizisten haben Anrufe von Taliban erhalten, die versuchen, ihren Aufenthaltsort herauszufinden und sie bedrohen. Sie alle sind in Angst und Verzweiflung. Als Afghanistan in die Hände der Taliban fiel, war ich zum Glück außer Landes. Aber viele weibliche Polizistinnen, die im Land verbleiben, haben psychische und physische Gewalt erfahren. Frauen, die unter den Taliban leben, trauen sich nicht einmal, ihr Haus zu verlassen.
Im September ermordeten die Taliban eine ehemalige Polizistin in der zentralafghanischen Provinz Ghor.
Banu Negarah, die vor der Machtübernahme der Taliban ihren Dienst in einem Gefängnis in der Provinz verrichtet hatte, wurde vor den Augen ihres Ehemannes und Sohnes von Taliban getötet worden. Sie war hochschwanger.
Die afghanische Journalistin Elaha Sahel meint dazu: „Als die Friedensgespräche vor zwei Jahren begannen, riefen afghanische Frauen die internationale Gemeinschaft immer wieder auf, dafür zu sorgen, dass die Rechte der Frauen während und nach dem Friedensprozess geschützt werden. Leider hat uns niemand zugehört. Westler stempeln uns immer wieder mit den Marken „Elitefrauen“, „verwestlichten Frauen“ ab und meinten wir seien nicht wirklich repräsentativ für afghanische Frauen. Sie taten dies, um uns zum Schweigen zu bringen und sicherzustellen, dass wir nicht gehört werden. Wir wurden von den Leuten verraten, die uns sagten, sie seien wegen afghanischer Frauen hier. In den letzten zwei Monaten haben wir von der internationalen Gemeinschaft nur sehr wenig Kritik am Verhalten der Taliban gegenüber Frauen gehört, und das ist traurig.“
Quellen: Amnesty International und Human Rights Watch