Impfpflicht und Ethik

Von Albert Wittwer

Wer nur für sich selbst verantwortlich und wohlhabend ist, kann sich treu bleiben. Selbst ein zutiefst guter Mensch mag in bitterer Not schuldig werden – um zu überleben. Hat man die Verantwortung für andere, in Familie, Unternehmen oder Staat, baute Max Weber in mit seiner Verantwortungsethik eine Brücke.

Die persönliche Freiheit ist ein hohes Gut und in Europa durch völkerrechtliche Verträge und verfassungsrechtlich abgesichert. Sie beinhaltet nach gängiger Definition das Recht jedes Menschen auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. … Jeder Mensch hat das Recht, sich frei zu entfalten. Das heißt: Jeder Mensch darf sein Leben so leben, wie er möchte.

Es ist für mich kein Zweifel, daß die Verantwortungsträger im Staat in ihrer persönlichen Ethik, ihrer Gesinnung, diesem Ideal anhängen. Dennoch greifen sie mit der Impfpflicht in diese Freiheit, konkret unsere körperliche Unversehrtheit, ein. Sie nehmen in ihrer Aufgabe mit diesem Zwang die Verantwortungsethik in Anspruch. Es ist wahr, daß das im modernen europäischen Kontext ein schmaler, aber doch ausgetretener Pfad ist.

Es gibt in Österreich die Pflicht, sich als Sterbenskranker von zwei Ärzten und einem Notar bestätigen zu lassen, ob man vorzeitig den Tod wählen darf. Aber man muß dann noch den Schierlingsbecher selber zum Mund führen und trinken. Das kann bei weitem nicht jeder. In vielen Ländern und Religionen gibt es die Pflicht, eine noch nicht lebensfähige Leibesfrucht, ein kaum gezeugtes und unerwünschtes Kind, austragen und gebären zu müssen. Harmlosere Fälle, die allerdings keine Fremdgefährdung betreffen, sind Helm- und Gurtenpflicht.

Die Religionen sind beim Thema der Gesinnungsethik ein eigenes, durchaus gruseliges Kapitel. Über Kindesmißbrauch in Deutschland, anders als in Frankreich, sind mehrere seriöse Studien zur Rolle des Klerus bei Kindesmißbrauch unter streng katholischem Verschluß. Die Bischöfe hielten ihre Verantwortungsethik gegenüber ihren teils intern überführten Mitbrüdern höher als die Verantwortung für anvertraute Kinder. Zweifellos ist der Staat, dem das nicht immer geheim bleiben konnte, Hinweisen nicht nachgegangen, hat die Staatsanwälte nicht eingeschaltet. Ein für die betroffenen Buben tragisches Bündnis. In Vorarlberg ging das Kloster Mehrerau, wo der Abt weggesehen hat, vor etwa zehn Jahren in einem Schadenersatzprozess in Berufung, zahlte aber dann nach den gerichtlichen Feststellungen doch.

Es gibt Ex-Politiker, die nach dem Ausscheiden aus staatlicher Verantwortung in Branchen wechselten, die mit dem offiziell vertretenen Parteiprogramm unvereinbar waren oder sind, obschon sie mit ihrer hohen Qualifikation ihren Unterhalt auch leicht in Bildung oder Wissenschaft oder auch heimischer Wirtschaft, die mit Waffen oder der Gefährdung Spielsüchtiger nichts zu tun hat, verdienen konnten oder können.

Erinnern wir uns lieber an die „Gerechten unter den Völkern“, die während der NS-Diktatur Menschen vor der Ermordung bewahrten, darunter die Österreicher Julius Madritsch, Raimund Titsch und Oswald Bouska. Sie haben Gesinnungsethik und Verantwortungsethik in Gleichklang gebracht.

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