Von Albert Wittwer
Die Bevölkerung Ukraine setzt der Invasion und beabsichtigten Annexion durch Rußland erbitterten Widerstand entgegen. Dies gegen einen übermächtigen Gegner. Nur von Vernunft geleitet, müßte die Ukraine sich kampflos ergeben und um Gnade bitten. Die Verhandlungen waren, wie sich herausstellte, nur eine Taktik des Aggressors, um das Gesicht vor der Welt zu wahren. Es ist nicht gelungen.
Es gibt keine Sehnsucht der Menschen in der Ukraine, wieder zu Rußland zu gehören, das sich immer weniger von der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken unterscheidet. Sie wollen sich wirklich – aus verständlichen Gründen – für Europa, das Mutterland der Zivilisation, entscheiden und nicht für eine Plutokratie, in der die Oligarchen und der Geheimdienst unter ihrem gemeinsamen Präsidenten die Macht exklusiv unter sich aufteilen. Gäbe es eine Sezessionsbewegung in der Ukraine, jetzt hätte sie – wie angeblich vor acht Jahren auf der Krim – Hochzeit halten können. Die Sezession der Krim: Fake-News der russischen Trollfabriken.
Ähnlich absurd die Bedrohung Rußlands durch die Nato. Wer kann sich vorstellen, Soldaten aus Italien, Deutschland oder Frankreich könnten mit dem Segen ihrer demokratischen Regierungen in Rußland einmarschieren?
Das Konzept des Selbstbestimmungsrechtes der Völker ist zwar eine Art völkerrechtlichen Gewohnheitsrecht. Es kann aber ohne völkerrechtliche Zustimmung des Ur-Staates praktisch nicht schlagend werden. Wenn es allerdings einem Landesteil geling, sich vom bisherigen Gesamtstaat zu lösen und dort alle Staatselemente: Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt zu realisieren, wird er üblicherweise innerhalb weniger Jahre von den anderen Staaten anerkannt und gewinnt dadurch die völkerrechtliche Selbständigkeit. Das Völkerrecht beschützt im Prinzip stets den Status Quo, den jetzigen Zustand, vor einer gewaltsamen Überrumpelung.
Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Katalanen und Basken und die Schotten und die Südtiroler von ihren Zentralstaaten nicht diskriminiert werden und daß sie zugleich an den staatstragenden Ämtern dort teilnehmen. Sonst müßten wir etwa in Südtirol einmarschieren, vielleicht auch in der Lombardei und im Veneto. Triest war in der späten österreichischen Monarchie der bedeutendste Mittelmeerhafen. Aber Scherz beiseite. Vor der Aggression Rußlands kann eine kleinstaatliche, immerwährende, mickrig bewaffnete Neutralität wohl nicht beschützen. Bequemer ist für uns, daß wir von Nato-Mitgliedsstaaten umgeben sind und auch dem internationalen Kapitalfluchtbankplatz Schweiz.
Aber welche Verstörung, was für ein Desaster.
Ich muß auf Nachrichten in Radio oder TV verzichten, bin zu wehleidig. Lesen geht, muß sein. Daß wir das erleben! Wie sich ablenken? Arbeiten, Arbeiten, Arbeiten, wer Glück hat in der Pflege, in der Medizin, am Bau, in Dienstleistungen, mit Kindern, Jugendlichen, beim Aufräumen, Kochen, bei den Hausaufgaben helfen, für Frieden demonstrieren, für Flüchtlinge spenden.
Dann Wandern in der Natur, bis zur Müdigkeit. Die Sonne, die Luft, die Wolken, die kleinen Bäche, der See, sie spielen mit. Das Licht ist tröstlich. Es wird vorbeigehen. Wir Glücklichen werden nicht vergessen, aber immerhin weiterleben, gemeinsam mit unseren Lieben.
Wir sind ins Dasein geworfen. Wir haben es uns nicht ausgesucht. Die Reise auf diese Welt nicht bezahlt und gebucht. Es mag uns klar werden, daß sie kein Ziel hat – außer der Reise selbst. Begleiten wir unsere Gefährtinnen und Gefährten mit Aufmerksamkeit und Zuwendung. Schenken wir Beachtung: den Blumen und Pflanzen, den Ameisen und Amseln, den dahinziehenden Wolken, dem Regen, der Sonne.