Wie entledigt man sich eines Diktators?

Von Albert Wittwer

Unser hochdiplomatischer Außenminister fiel vor etwa einer Woche in den sozialen Netzwerken in Ungnade, als er den Krieg in Europa als Normalzustand, an den wir uns wohl wieder gewöhnen müßten, den nunmehr fünfundsiebzigjährigen Frieden als Ausnahme bezeichnete. Gibt es eine Übersicht, wie selten lebendige Demokratien, wie häufig Diktaturen, die für den inneren Zusammenhalt äußere Feinde, Fremde benötigen, Angriffskriege führen?

Das vom Historiker Francis Fukuyama nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus der UdSSR eingeleitete „Ende der Geschichte“ erwies sich als Irrtum. Es gab auch den Irrglauben, der individuelle Kapitalismus führe automatisch zur Demokratie, was das moderne China eindrucksvoll widerlegt hat, ein Rollenmodell für Staatsdurchgriff und Oligarchenwirtschaft, das unter populistischer Tarnkappe auch bei unserem jugendlichen Herrn Exbundeskanzler und den Präsidenten von Polen und Ungarn Sympathien hervorruft.

Die Demokratie ist zwar die Lösung für unsere friedliche, gedeihliche, selbstbestimmte Existenz und die unserer Kinder. Aber sie ist kein neudeutsch „default“, kein Urzustand. Sie ist anstrengend, anspruchsvoll, fordernd, und im Laufe der Menschheitsgeschichte die späte absolute Ausnahme. Die maskulinen Oligarchien des alten Griechenlands und teilweise des Imperium Romanum mag ich nicht mitzählen. Sie ist eine Errungenschaft, ein „work in progress“. Sie tritt nicht von selber auf, erlaubt kein Sich-Zurücklehnen, keine Resignation. Sie ist fad, denn sie muß ohne Helden auskommen.

Jonathan Haidt beschrieb in einer großen Metastudie den sozialen, ethischen Normalzustand, wie er alle Völker im Laufe der Menschheitsgeschichte geprägt habe. Er beruhe auf „moral instincts“, fünf moralischen Instinkten:

Aus den beiden Ersten kann man die Staatsverfassung, aus den beiden Letzten die Straf- und Zivilrechtsordnung ableiten.

Sohin erinnern wir uns an den Geschichtsunterricht: Die Herrschaft des Volkes ist kein Normalzustand. Jahrtausendelang üblich ist der (hoffentlich) weise Führer von Gottes Gnaden. Unser aller Freiheit ist ein Geschenk der Demokratie, ein zartes Pflänzchen, das gepflegt werden will wie ein kostbarer Garten.

In der Putin‘schen Welt ist „Korruption der Klebstoff, der das System zusammenhält, aller Besitz ist irgendwie obsolet, sodaß jeder stets wegen Korruption angeklagt und eingesperrt werden kann. Jeder lebt latent in Angst, die ihn als politisches Wesen lähmt. „*)

Die guten Zeiten, Mandela aus dem Gefängnis entlassen, die Menschenrechte, die individuellen Tugenden und Freiheiten rechtlich verankert und durch die Verwaltung und Gerichte geschützt, kein Krieg – wenigstens in Europa – sie dürfen nicht vorbei sein. Die Institutionen (Gewaltenteilung, freie und öffentlich rechtliche Medien, Freiheit der Lehre und Forschung und Kunst) leben fort.

Es ist schmerzhaft, wenn Journalisten und Redakteurinnen, die engagiert und kontrolliert und im Schutze von Redaktionsstatuten und der Rechtsordnung ihrer Arbeit nachgehen, als gelenkte Medien und Lügenpresse diffamiert werden. Die russischen Troll-Fabriken lassen grüßen. Aber das müssen wir aushalten.

Es ist schmerzhaft, wenn auch seriöse Medien sich regelmäßig beklagen, die europäischen Staaten seien sich uneinig, es werde endlos diskutiert. Das kann im Heiligen Rußland oder der Volksrepublik China nicht passieren. Die Diskussion, der Kompromiß sind notwendige Voraussetzung der demokratischen Meinungsbildung. Das müssen wir aushalten.

Aber wie entledigt man sich gewaltfrei eines Diktators? Er hat so viel unschuldiges Blut an den Händen, so viel Vermögen gestohlen, daß er nicht riskieren kann, abzutreten. Vorher läßt er das Kapitol stürmen. Der Klassiker seiner Entsorgung ist ein Militärputsch. Besser, wir wählen ihn ab, solange noch Zeit ist. Moralischer gesellschaftlicher Fortschritt ist möglich. Wir können es beweisen.

Anmerkung:

*) Fiona Hill, Clifford Gaddy in „Putin“.

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