Von Albert Wittwer
Der Diktator: zuerst in der Blase, dann in der Falle.
Potentaten haben es schwer, eine andere Weltsicht als ihre eigene auch nur in Erwägung zu ziehen. Das Problem verschärft sich, je länger sie sich an der Macht halten. Unvermeidlich umgeben sie sich mit Jasagern, spontan mit Mitarbeitenden, die ihre Weltsicht teilen. Andere werden nicht befördert, aus dem inneren Kreis entfernt. Ein sich selbst verstärkender Effekt. Je höher sie stehen, umso öfter werden ihnen schlechte Nachrichten verheimlicht. Sie können sich ja nicht geirrt haben, also sind es ohnehin Fake-News, unglaubwürdige Gerüchte, die von Gegnern, die braucht jeder Potentat, damit sich die Getreuen um sie scharen, gestreut werden.
Beispiele dafür gibt es auch in Demokratien, etwa beim US-Präsident Roosevelt vor dem japanischen Angriff auf Pearl Harbour, bei der gescheiterten Invasion der USA in der kubanischen Schweinebucht, bei Bushs Irakkrieg gegen Saddam Hussein. *)
Daß die Entscheidungsfindung in möglichst nicht homogenen Gruppen jener durch Einzelne überlegen ist, hat u.A. Margret Payer herausgefunden. 2)
Voraussetzung ist die hohe Zurückhaltung des (stets unglaublich bedeutenden, hochbezahlten) Vorsitzenden. Die Darstellung der zu entscheidenden Frage oder Fragen durch einen außenstehenden Moderator. Die Teilnehmerinnen und Beteiligten an der Meinungsbildung sollten die Überlegungen dazu isoliert, einzeln anstrengen und nach Möglichkeit visualisieren, also einen Text, ein Plakat dazu vorlegen. Die Ergebnisse werden dann allgemein gezeigt und wieder, unter Zurückhaltung des Kanzler/Präsidenten/Generaldirektors diskutiert. Fragen sind erlaubt und wichtig. Aus den gewonnen Einsichten gelangt man mit etwas Glück zu einer umsetzbaren, von allen akzeptierten oder gar mitgetragenen Erkenntnis.
Äußert sich der Vorsitzende gleich oder bringt durch nonverbale Kommunikation sein Mißfallen zu Beiträgen zum Ausdruck, kann die Meinungsbildung auch vorzeitige, schlechte Ergebnisse zeitigen, scheitern. Die Bereitschaft, die Erwartungen des Chefs zu erfüllen, ist bei Karrieristen sehr ausgeprägt- und er erwartet, bestätigt zu werden.
Schalldicht ist die Blase, in der sich der russische Präsident aufhält. Natürlich kann er nicht riskieren, mit dem Präsidenten der Ukraine Selenski direkt und persönlich zu sprechen. Dabei könnte er nur verlieren. Und er würde damit eine Art „Augenhöhe“ herstellen, die er einem von ihm als Faschisten diffamierten Gegner nicht zubilligt.
Entlarvend die Bilder von den Sitzungen des Polit-Komitees, Verzeihung des Staatsrates. Dessen Mitglieder drängen sich am hinteren Ende eines überdimensionierten, langen und definitiv unrunden Besprechungstisches. Mit großem Abstand zu seiner Hoheit. Wo könnte da Selenski sitzen, da der Präsident nicht einmal in der Nomenklatura seinesgleichen erkennt? Wohl nur im Keller der Lubjanka, dem zentralen Gefängniskellers des Geheimdienstes.
Zwar ist anzunehmen, daß die Getreuen sich ebenso wie der Präsident unwohl fühlen. Die Bevölkerung hätte die Invasoren als Befreier bejubeln müssen, die Verteidigung zusammenbrechen. Die Rechnung wird nicht aufgehen. Aber ob sie sich trauen, das ihren Genossen zu offenbaren? Sie sollen ja als ältere Semester vom KGB, dem sowjetischen Geheimdienst sozialisiert worden sein und fürchten sich, als Verräter an der Heiligen Sache bestraft zu werden. Allerdings scheint es unmöglich, Rußland in eine Art Nordkorea zu verwandeln; dafür ist ein großer Teil der Bevölkerung zu gebildet und weltoffen. Die meisten Experten internationaler Politik vermeinen, Putin sei jedenfalls erledigt. Es fragt sich nur wann – und um welchen Preis für Unschuldige.
Er hat sich in die „sunc cost fallacy“, die Falle der versunkenen Kosten gebombt. Die mehreren tausend jungen Männer der russischen Invasionsarmee dürfen nicht umsonst gestorben sein. Welche Tragödie für die Ukraine und für Russland!
Anmerkungen:
1) Der Sozialpsychologe Irving Janis untersuchte Anfang der Siebzigerjahre authentische Fälle, in denen politische Fehlentscheidungen von enormer Tragweite getroffen worden waren. Szenarien wie Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine also. „Viktims of Groupthink“
Margrethe Payer,
http://www.payer.de/kommkulturen/kultur072.htm#11.