Von Thomas Bertram
Nach dem Erfolg der Neuverfilmung von Agatha Christies Mord im Orientexpress haben sich Ridley Scott als Produzent und Kenneth Branagh als Regisseur, der auch den Poirot spielt, an das nächste Schwergewicht herangewagt: Tod auf dem Nil. Lohnt es sich?
Die große Frage ist hier natürlich: Wie dicht bleibt man am Original und ist trotzdem originell? Denn die Frage, wer der Täter ist, warum und wie, das ist bestimmt so gut wie jedem bekannt. Deshalb schaut sich niemand den Film an. Und nur die großartigen – die sind WIRKLICH! großartig- Filmaufnahmen des Luxus und die tollen Kamerafahrten und -einstellungen machen den Unterschied auch nicht aus.
So erhält Poirot eine Vorgeschichte aus dem Ersten Weltkrieg und einige Personen werden neu in die Geschichte einsortiert. Aus dem amerikanischen Anwalt wird ein gebildeter Ägypter, der das Vermögen der reichen Linnet Ridgeway verwaltet, der erste Mordanschlag findet nicht in einer Tempelruine statt, sondern es ist eine Kobra, die „zufällig“ aus ihrem Behältnis entkam. Den Anschlag/Unfall in der Ruine gibt es natürlich auch noch, viel dramatischer als in den vorherigen Verfilmungen. Poirots Freund Bouc und Salome Otterbourne haben ein Verhältnis, und Bouc wird der, der die wertvolle Perlenkette der verblichenen Linnet entwendet. Zudem ist er mit Poirot von früher verbunden, was seine Rolle deutlich aufwertet. Er führt Poirot beschreibend die handelnden Personen vor, als sich alle um das Brautpaar versammeln.
Zurück zur Ausgangsfrage: Lohnt es sich? Ein ganz klares 6:1 für JA.
Warum?
- Die großartigen Aufnahmen des Luxus, der Speisen usw. habe ich schon erwähnt. Dazu kommen grandiose Aufnahmen der Natur, des Schiffes und der Kulturstätten.
- Die veränderten Konstellationen der Personen ermöglichen neue Kombinationen und das wird gut ausgenutzt, insbesondere in der Figur des Bouc und seiner Mutter. Hier gibt es neue, unerwartete Verstrickungen. Sogar Poirots Flirt, wenn man das einen Flirt nennen kann, mit Rosalie Otterbourne bekommt hier eine neue Bedeutung.
- Die Szenen in der Bar am Anfang, wo Doyle mit seiner Verlobten Jackie einen wahnsinnig erotischen Tanz aufführt, sind einfach grandios, auch im nachfolgenden Tanz von ihm mit Linnet Ridgeway knistert es mit jeder Einstellung mehr.
- Die Begleitmusik durch Rosalie Otterbourne ist wunderbar gespielter Jazz und Swing. Sehr passend zu den Szenen am Beginn in der Bar, später in Kairo und auf dem Schiff und zum Schluss der traurige Blues.
- Die Verhöre, die dieser neue Poirot führt, sind schneidend. Und er bohrt und schneidet schmerzhaft tief. Hier ist jeder verdächtig.
- Und Poirot wird ein Mensch – für mich die größte Überraschung und Variante. Punkt!
Das Gegentor? Das ist ein für mich unverzeihlicher Fehler: Poirot wird im Ersten Weltkrieg auf der rechten Wange übel entstellt, es klafft eine kreuzförmige, große, tiefe Wunde. Und seine damalige Freundin sagt dazu: dann wirst du dir einen Bart stehen lassen. Ja, den Bart hat er, aber keine einzige, noch so kleine Narbe darunter. In der Schlusseinstellung, bartlos, hat er dann eine große Narbe von der Wange quer über die Oberlippe. Da hätte dann aber auch kein Bart wachsen können.
Noch eine abschließende Bemerkung: natürlich ist das ein Film für die große Leinwand, aber dank seiner tollen, neuen, interessanten Umsetzung ist er auch für das heimische Wohnzimmer eine echte Empfehlung. Gerade, wenn man das Buch oder die eine oder andere Verfilmung kennt.