Von Albert Wittwer
„Die G-7-Staaten werden die erzwungenen Grenzen nie anerkennen.“
Was wäre, wenn die von Rußland bereits besetzten, annektierten Donbassrepubliken aufgegeben werden? Diese Annexion – um eine solche handelt es sich – könnte der Preis für einen sofortigen Waffenstillstand, die Voraussetzung für weitere Verhandlungen über die künftigen Beziehungen sein. Es liegt auf der Hand, daß der Anschluß völkerrechtswidrig erzwungen wäre, nicht auf einer objektivierten Selbstbestimmung der Bevölkerung der Ukraine, noch weniger des engeren Gebietes läge. Das Völkerreicht kennt prinzipiell kein Separationsrecht.
Diesen Krieg kann sowieso niemand gewinnen. Daß die Ukraine aufgibt, ist angesichts der viel bewunderten Entschlossenheit von Volk und Regierung und der internationalen Unterstützung undenkbar. Und Rußland wird Jahre oder einen Regimewechsel brauchen, um zu resignieren.
Nach einem Waffenstillstand müßte niemand, kein Mensch der Ukraine, kein mißbrauchter russischer Soldat mehr sterben. Nicht einmal die bezahlten Söldner, die allerdings am besten ausgebildet und daher geschützt die höchsten Überlebenschancen haben.
Wären dann viele gute Männer umsonst gestorben? Kann man mit der Bejahung dieser Frage weitere Menschenopfer rechtfertigen?
Sie starben sowieso umsonst. Die einen in gerechtfertigter Selbstverteidigung, die anderen als Kanonenfutter für hybriden Größenwahn. Wer sich gegen einen Angriff verteidigt, stirbt einen unnatürlichen Tod. Auch wenn die Verteidigung gegen einen Aggressor ethisch geboten, strafrechtlich erlaubt und völkerrechtlich legitimiert ist. Das zieht sich vom Angriff gegen eine einzelne Person über das Hausrecht bis hin zum Staat.
Echte Männer lieben aber endgültige Entscheidungen. Sie sind Besitzer und Verkünder absoluter Wahrheiten, oft direkt von Gott eingegeben und von dieser Wahrheit berauscht. Sie fahren uns alle – nicht nur im Kriegsfall – mit hohem Tempo gegen die Wand.
Pacta sunt servanda. Verträge sind einzuhalten. Außer sie sind unter Zwang, Täuschung, Arglist zustande gekommen. Und unter dem Vorbehalt der clausula rebus sic stantibus, der Änderung der maßgeblichen Verhältnisse. Etwa, daß der russische Präsident stürbe oder entmachtet würde. Daß der russische Staat sich vom Heiligen Rußland in eine freiheitliche Demokratie wandelte. Warum sollte für Friedensverträge, Verträge unter souveränen Staaten, etwas anderes gelten. Müßten wir im demokratischen Westen uns in aller Zukunft an die Verträge halten, die mit älteren Diktatoren „endgültig“ geschlossen wurden, etwa über Grenzen und Einflußzonen?
Die alten Diktatoren sind echte Männer. Sie klammern sich an die Macht, ohne die sie nicht überleben können. Gäben sie die Macht auf, machte man ihnen den Prozeß. Sie haben so viel gemordet und gefoltert, vertrieben und gestohlen. Sie können nicht unblutig abtreten. Das vor allem unterscheidet die Diktatur von der Demokratie.
Das russische Volk leidet wohl weniger als das ukrainische und mehr, als es deshalb verdient, weil sie den Diktator gewählt und wiedergewählt haben. Das ist unsere Verantwortung. Sorgfältig zu wählen. Für eine Zivilgesellschaft einzutreten, die den Staat nicht als Obrigkeit, sondern als Diener der Gemeinschaft begreift.
Es ist ein Irrtum, die „großen“ politischen Entscheidungen für absolut, irreversibel zu halten. So hoffe ich, daß das Eingangsstatement der G7-Staaten über die Unverrückbarkeit der Grenzen nur eine Taktik, keine Strategie kennzeichnet. Sonst mögen die hohen Herren bei Andreas Gryphius (1637) nachlesen:
Du siehst, wohin du siehst, nur eitelkeit auf erden.
Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;
Wo ietzundt städte stehn, wird eine Wiese seyn,
Auf der ein schäfers kind wird spielen mit den herden.