Ist Österreich noch neutral?

Von Wolfgang Türtscher

Mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 ist nicht nur klar geworden, dass Europa im Prinzip wehrlos dasteht, sondern auch unsere Neutralität ist ins Gerede gekommen – zwei ausgewiesene Experten, General i.R. Günter Höfler und Altnationalratspräsident Univ.-Prof. Dr. Andreas Khol – halten sie für „obsolet“. Unser Bundeskanzler Karl Nehammer hat zwar publikumswirksam ein „Schluss der Debatte“ verordnet, was auch prompt gewirkt hat. Vom Tisch ist die Frage aber nicht.

Es ist auch viel von politischer, wirtschaftlicher und militärischer Neutralität gesprochen worden – das ist ein Unsinn, es gibt nur eine militärische Neutralität. Am 26. Oktober 1955 hat unser Parlament das Neutralitätsgesetz beschlossen, wahrscheinlich eines der kürzesten Gesetze, die wir haben:

 (1) Zum Zwecke der dauernden Behauptung seiner Unabhängigkeit nach außen und zum Zwecke der Unverletzlichkeit seines Gebietes erklärt Österreich aus freien Stücken seine immerwährende Neutralität. Österreich wird diese mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen.

(2) Österreich wird zur Sicherung dieser Zwecke in aller Zukunft keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiete nicht zulassen.

Damit wird klar, das kann nur militärisch gesehen werden. Völkerrechtlich ist es so, dass die Neutralität dazu verpflichtet, sich selbst verteidigen zu können. International sieht man das als gegeben an, wenn ca. 2 % des BIP für Verteidigung ausgegeben werden; in Österreich sind das 0,6 %, zu besten Zeiten in der Ära Prader 1964-1970 auch einmal 0,9 %, also weit entfernt von dem Wert, der notwendig wäre. Das ist ein feiner Hinweis darauf, dass wir es mit unserer Neutralität nie so richtig ernst genommen haben.

Wie schaut es nun rechtlich aus? Da empfiehlt sich ein Blick in unsere Bundesverfassung. Dort heißt es seit 2010 im Artikel 23j:

 (1) Österreich wirkt an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union auf Grund des Titels V Kapitel 1 und 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon 2007 mit, der in Art. 3 Abs. 5 und in Art. 21 Abs. 1 insbesondere die Wahrung beziehungsweise Achtung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen vorsieht. Dies schließt die Mitwirkung an Aufgaben gemäß Art. 43 Abs. 1 dieses Vertrags sowie an Maßnahmen ein, mit denen die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zu einem oder mehreren Drittländern ausgesetzt, eingeschränkt oder vollständig eingestellt werden. Auf Beschlüsse des Europäischen Rates über eine gemeinsame Verteidigung ist Art. 50 Abs. 4 sinngemäß anzuwenden.

(2) Für Beschlüsse im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union auf Grund des Titels V Kapitel 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon gilt Art. 23e Abs. 3 sinngemäß.

(3) Bei Beschlüssen über die Einleitung einer Mission außerhalb der Europäischen Union, die Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und der Erhaltung des Friedens oder Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten umfasst, sowie bei Beschlüssen gemäß Art. 42 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon betreffend die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik ist das Stimmrecht im Einvernehmen zwischen dem Bundeskanzler und dem für auswärtige Angelegenheiten zuständigen Bundesminister auszuüben.

(4) Eine Zustimmung zu Maßnahmen gemäß Abs. 3 darf, wenn der zu fassende Beschluss eine Verpflichtung Österreichs zur Entsendung von Einheiten oder einzelnen Personen bewirken würde, nur unter dem Vorbehalt gegeben werden, dass es diesbezüglich noch der Durchführung des für die Entsendung von Einheiten oder einzelnen Personen in das Ausland verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfahrens bedarf.

Es geht also klar daraus hervor, dass Österreich an Missionen der EU teilzunehmen hat, auch dann, wenn sie außerhalb Europas stattfinden. Eigentlich haben wir 2010 in unsere Verfassung geschrieben, was der § 42 des EU-Vertrages von uns seit 1995 verlangt. Er wurde prinzipiell in Maastricht beschlossen und ist seit 1.1.1993 in Kraft, in dieser Form seit dem Vertrag von Lissabon 2007; er war uns also beim Beitritt 1995 bekannt:

(1) Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist integraler Bestandteil der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Sie sichert der Union eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Operationsfähigkeit. Auf diese kann die Union bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zurückgreifen. Sie erfüllt diese Aufgaben mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden.

(2) Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfasst die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union. Diese führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat dies einstimmig beschlossen hat. Er empfiehlt in diesem Fall den Mitgliedstaaten, einen Beschluss in diesem Sinne im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zu erlassen.

Die Politik der Union nach diesem Abschnitt berührt nicht den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten; sie achtet die Verpflichtungen einiger Mitgliedstaaten, die ihre gemeinsame Verteidigung in der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) verwirklicht sehen, aus dem Nordatlantikvertrag und ist vereinbar mit der in jenem Rahmen festgelegten gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

(3) Die Mitgliedstaaten stellen der Union für die Umsetzung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zivile und militärische Fähigkeiten als Beitrag zur Verwirklichung der vom Rat festgelegten Ziele zur Verfügung. Die Mitgliedstaaten, die zusammen multinationale Streitkräfte aufstellen, können diese auch für die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik zur Verfügung stellen.

Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Die Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (im Folgenden „Europäische Verteidigungsagentur“) ermittelt den operativen Bedarf und fördert Maßnahmen zur Bedarfsdeckung, trägt zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors bei und führt diese Maßnahmen gegebenenfalls durch, beteiligt sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung und unterstützt den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten.

(4) Beschlüsse zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einschließlich der Beschlüsse über die Einleitung einer Mission nach diesem Artikel, werden vom Rat einstimmig auf Vorschlag des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik oder auf Initiative eines Mitgliedstaats erlassen. Der Hohe Vertreter kann gegebenenfalls gemeinsam mit der Kommission den Rückgriff auf einzelstaatliche Mittel sowie auf Instrumente der Union vorschlagen.

(5) Der Rat kann zur Wahrung der Werte der Union und im Dienste ihrer Interessen eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer Mission im Rahmen der Union beauftragen. Die Durchführung einer solchen Mission fällt unter Artikel 44.

(6) Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander weiter gehende Verpflichtungen eingegangen sind, begründen eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union. Diese Zusammenarbeit erfolgt nach Maßgabe von Artikel 46. Sie berührt nicht die Bestimmungen des Artikels 43.

(7) Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.

Die Verpflichtungen und die Zusammenarbeit in diesem Bereich bleiben im Einklang mit den im Rahmen der Nordatlantikvertrags-Organisation eingegangenen Verpflichtungen, die für die ihr angehörenden Staaten weiterhin das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und das Instrument für deren Verwirklichung ist.

Der im EU-Vertrag vorgesehen einstimmige Beschluss nach Absatz 4 ist übrigens durch den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs in der Erklärung von Versailles am 10. und 11. März 2022 gefasst worden. Diese Bestimmungen sehen auch vor, dass die EU von Österreich verlangen kann, „seine militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern“. Das wird wohl bald der Fall sein!

Als am 21. März 2022 die EU verkündet hat, ab 2025 eine 5.000 Mann starke EU-Eingreiftruppe aufzustellen, hat unsere Verteidigungsministerin Mag. Klaudia Tanner verkündet, dass Österreich selbstverständlich dabei sein werde, weil das mit unserer Neutralität vereinbar sei. Nachdem kein Widerspruch erfolgte, muss es wohl so sein!

Fazit: Wir sind so neutral, wie wir uns fühlen! Die österreichische Politik hat eigentlich seit 1955 parteiübergreifend unsere Neutralität nicht wirklich ernst genommen. Da es heute noch so ist, dass mehr als 60 % der Bevölkerung eben an diese Neutralität glaubt und gar der Meinung ist, sie habe uns seit 1955 den Frieden gesichert, wird wohl keine politische Kraft in Österreich, die bei Wahlen einigermaßen gut abschneiden will, diese in Frage stellen! Auch das ist ein Kennzeichen der österreichischen Politik – seit Jahrhunderten übrigens: Man tut so, als ob!

Klassisch neutral in dem Sinn, dass wir uns nirgends einmischen, sind wir nicht mehr!

Titelbild: Wikipedia

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