Lebte Friedrich Nietzsche heute noch, käme man zum Schluss, er schreibe über das Netz. Damit ist heute natürlich das Internet gemeint. Er könnte es im Wandel der netzbasierten, internetbasierten „social media“ nicht besser formulieren. Ich traue mich nicht zu schreiben der „Sozialen Medien“. Sie haben ja disruptiven Einfluss auf die Gesellschaft, auf den Zusammenhalt der Bevölkerung. Die trifft sich dort in Blasen.
Von Albert Witwer
Ein aktuelles Beispiel: Für das Amt des Bundespräsidenten bewerben sich Persönlichkeiten, die folgende Anliegen vertreten:
- Kollektive Intelligenz soll die Richtung des Landes bestimmen;
- Einsatz von Chemtrails (von Flugzeugen gesprüht) beeinflussen nicht nur das Wetter;
- Covid-Impfung ist ein genveränderndes Waffensystem;
- Gott und die Dringlichkeit der bevorstehenden Drangsal voranstellen;
- Regierung entlassen und mit der Expertenmeinung des Volkes regieren.
Das Netz macht es möglich, dass „Frank der Reisende“ aus Thüringen mit 50.000 Abonnenten auf seinem Kanal regelmäßig für Kundgebungen bei Veranstaltungen des amtierenden Bundespräsidenten aufruft. Da kommen dann einige, die grölen und pfeifen. Das müssen wir aushalten.
Schwieriger ist der „Hass im Netz“. Nach einem Vorfall wie dem bedauerlichen Tod der Ärztin Kellermayr ist ein beliebter politischer Reflex, es fehle an Strafvorschriften oder an einer spezialisierten neuen Behörde. Das soll signalisieren: Wir haben als Verantwortliche bisher alles richtig gemacht und reagieren jetzt auf neue Herausforderungen. Tatsächlich handelt es sich um Führungsmängel in den Verfolgungsbehörden und auch um gezielte personelle Unterbesetzung der Justiz.
Es ist nicht so sehr nötig, dass jede Strafverfolgung zu einer Verurteilung führt. Wichtig ist, dass der Täter erkennt, dass ihn die Behörde im Auge hat. Er unterhält sich blendend in seiner Freizeit mit dem posten giftiger Botschaften. Die Gleichgesinnten finden sich. Wie sonst könnten sich „Chemtrails“ über Jahre behaupten? Da erhält er virtuellen oder analogen Besuch von höflichen Staatsbeamten, die ihn zur Rede stellen, die Fragen stellen. Der Staat, auch in seiner zivilisiertesten Erscheinungsform, ein riesiger Apparat. Jetzt ist seine Aufmerksamkeit gebunden. Er muss sich wehren, rechtfertigen. Seine Identität verschleiern? Er wird vorsichtiger, er gibt irgendwann auf, frustriert, entnervt.
Unser ehemaliger, sehr gutaussehender Finanzminister wurde im Ergebnis für mutmaßliche Steuerhinterziehung nicht strafrechtlich verurteilt. Das Gericht beurteilte eine komplizierte Schachtelkonstruktion von Gesellschaften in verschiedenen Ländern nicht als „Mißbrauch steuerlicher Gestaltungsmacht“. Aber er mußte sich etwa ein Jahrzehnt in seiner Freizeit und unter Einsatz von viel Geld, das die Republik nicht ersetzt, gegen die Vorwürfe wehren. Ein tiefer Fall. Schon das Verfahren ist Strafe.
Vor diesem Hintergrund muß man sich fragen, was es auf sich hat mit dem Schutz der Privatsphäre, die dem Europäischen Gerichtshof und dem Menschenrechtgerichtshof in Straßburg ein Anliegen ist. Die Diktaturen scheren sich sowieso nicht darum. In den Demokratien klauen in ihrem Schutz die von den Anlageberatern hofierten echten und Möchtegern-Oligarchen wie die Raben. Und die radikalen Gewalttäter verabreden sich. Die Alamglocken schrillen spätestens, wenn der Menschheitswohltäter Musk, der den Orbit mit Satellitenmüll überzieht und klimaschädliche Weltraumausflüge an Millionäre verkauft, in Wahrheit grundeln sie in der Stratosphäre, zum Schutz der Meinungsfreiheit die Mehrheit von Twitter übernehmen will.
Aber wer ist jetzt die Spinne? Die Politiker, die den Algorithmus bestechen müssen, damit sie auftauchen und die Influencer sind es nicht. Wie alle, die posten, sind sie der Köder. Die Spinne sammelt, präpariert, struktuiert, verkauft unsere Daten.
Wie schützen wir uns? Bestimmt haben Sie eigene Antworten, die für alle förderlich sind. Vorschläge sind erwünscht!
Anmerkungen:
Zu den BP-Bewerbern sh. Der Standard vom 11.8.2022, S. 7