Die eigentliche, fundamentale Ursache des sexuellen Kindesmissbrauchs in der katholischen Kirche

Erst ab dem 17. Jahrhundert befasste sich die pädagogisch-historische Forschung mit minderjährigen Menschen als Kinder. Sie wurden nicht mehr als kleine Erwachsene gesehen, sondern als Menschen in ihrer je eigenen  Entwicklungsstufe, mit eigenen Bedürfnissen und Rechten.

Von Adi Untermarzoner

Zuerst setzte die Medizin, dann die aufkommende Pädagogik und Psychologie, Kinder in den Fokus ihrer Arbeit. Man erkannte deren eigene Bedürfnisse und damit die Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen sie sich gut entwickeln konnten. Obwohl am Anfang des 20. Jahrhunderts Missbrauch von Personen unter 14 Jahren, Kindesmisshandlungen und Körperverletzung unter Strafe gesetzt wurden, dauerte es bis in die 1980er Jahre, bis elterliche und schulische Gewalt abnahm.  Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts begann in den Medien die Veröffentlichung  des sexuellen Missbrauchs  von Kindern  in der katholischen Kirche. Aber schon seit den 50er-Jahren, so hat eine Untersuchung zum Bistum Münster ergeben, behandelte man im Schnitt jährlich fünf Fälle von sexuellem Missbrauch.  Zudem strotzt die Kirchengeschichte von diesen Verbrechen, die  schon seit Jahrhunderten begangen wurden. Darüber gibt es viel wissenschaftliche Literatur. Karlheinz Deschner hat  in seinem 500 Seiten umfassenden  Buch „Das Kreuz mit der Kirche, eine Sexualgeschichte des Christentums“  diese Perversion als in der Kirche seit Jahrhunderten existierend nachgewiesen. In seinen zehn Bänden  „Kriminalgeschichte des Christentums“  ist sexueller Kindesmissbrauch ebenfalls vielfach aufgezeigt. Es gibt aber noch viele andere Autoren wie Horst Hermann, Franz Buggle,  Frédéric Martel, Gerhard Czermak, die sexuellen Missbrauch durch den Klerus  in ihren Arbeiten nachweisen. 

Die Gründe, warum in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese Verbrechen an Kindern publik wurden, sind vielfältig. Die Ideen der Aufklärung  bewirkten bei einem Großteil der Gesellschaft kritisches Hinterfragen,  lösten die sexuelle Revolution aus und es setzte sich antiautoritäre Erziehung durch. Langsames Zurückdrängen der Prügelpädagogik ermöglichte es Kindern, den Mut aufzubringen, selbst den durch Sakralisierung abgehobenen Klerus anzuzeigen, das schamhafte Schweigen zu überwinden und den eigenen Eltern das schreckliche Erleben mitzuteilen.

„Vor allem die medialen Umbrüche des 20. Jahrhunderts und die damit entstandenen neuen Öffentlichkeiten erwiesen sich als ausschlaggebend und erlaubten, die vielen angeblichen Einzelfälle nicht nur in den jeweiligen nationalen katholischen Kirchen,  sondern im globalen Orbit der katholischen Kirche, zu einer Diskussion um ein umfassendes Strukturproblem zusammenzuführen.“[1]

Kurze Zusammenfassung der Missbräuche

USA: Die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs  in der römisch-katholischen Kirche begann in den USA 1985 durch den National Catholic Reporter. (Der National Catholic Reporter ist eine US-amerikanische Zeitschrift mit einer sich selbst als römisch-katholisch verstehenden Autorenschaft.) Es ist erstaunlich, dass dies in den USA geschah, wo nur fünf Prozent katholisch sind. Eine neue Dynamik entstand durch den Skandal, welchen der Boston Globe auslöste, als er im Jahr 2002 eine Serie von Artikeln über sexuellen Missbrauch in diesem Erzbistum veröffentlichte und die Strategie der Kirche demaskierte, Missbrauchsfälle durch die Versetzung belasteter Priester zu vertuschen. In der Folge wurden tausende  Missbrauchsfälle bekannt. Laut der John-Jay Studie 2004 gab es im Zeitraum 1950 bis 2002 landesweit 10 667 Fälle von Anschuldigungen gegen katholische Priester und Diakone wegen sexuellen Missbrauchs. Entschädigungszahlungen von insgesamt mehreren Milliarden US-Dollar führten dazu, dass neun Bistümer der USA Insolvenz anmeldeten.   

In Irland, dem angeblichen Land der „best catholics in the world“ wurde der sexuelle Missbrauch durch Priester ca. 10 Jahre später offenkundig. In diesem vom Katholizismus geprägten Land waren die Missstände der perversen katholischen Moral entsprechend drastisch.  Schon früher, als 1922 Irland die Unabhängigkeit erreichte, wurden mehrere Fälle von klerikalem Missbrauch ruchbar. Es herrschte in diesem Land die Identität kirchlicher und staatlicher Instanzen. In staatlichen  Heimen wurden, entsprechend katholischer Ideologie, gefallene Mädchen und unehelich geborene Kinder mit Foltermethoden drangsaliert. Der Fall des nordischen Priesters Brendan  Smyth, der im Juni 1994 wegen Missbrauchs an mindestens 90 Kindern verhaftet wurde, führte sogar zum Zusammenbruch der irischen Regierungskoalition, hatte sich doch herausgestellt, dass Smiths Auslieferung an Nordirland von staatlichen Stellen monatelang bewusst verzögert worden war. 1997 wurde Smith zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Nach einem Monat im Gefängnis starb er an einem Herzinfarkt. Vor  diesem Hintergrund trat der ehemalige Ministrant Andrew Madden eine Lawine los, als er im Juli 1995 als Erster in Irland öffentlich über ihm widerfahrenen Missbrauch durch einen katholischen Priester sprach und zugleich über das von  der Erzdiözese Dublin erhaltene Schweigegeld von 35 000 Euro berichtete. Hunderte weitere Opfer reichten daraufhin Zivilklagen gegen kirchliche Institutionen ein.[2] Ab 1999 überließ der irische Staat die Aufarbeitung der angeprangerten Missstände nicht mehr der Kirche, sondern übernahm die weitere Aufarbeitung und bestimmte die Auszahlung der Entschädigungsleistungen. Insgesamt 128 Millionen Euro mussten die kirchlichen Institutionen an die von Missbrauch Betroffenen entrichten. Im Mai 2009 veröffentlichte der Richter Sean Ryan einen Bericht von 2600 Seiten über die Missbräuche von 1914 bis in die 90er Jahre. Auf Grundlage  von 1800 Zeugenaussagen sowie zahlreichen Dokumenten identifizierte der Bericht mehr als 200 kirchliche Institutionen, in welchen sich Missbrauch ereignet hatte. „In nur einer Generation ist in Irland der Kirchenbesuch von 90 Prozent auf 20 Prozent, in Teilen mancher Städte auf 2, 3 oder 4 Prozent gesunken.“[3]

Deutschland: Welch scheinheilige Verschleierung zur Taktik und welches Pharisäertum zum Charakter der katholischen Kirche gehören wurde vor 2010  in Deutschland offensichtlich. Von der deutschen Kirchenführung vertrat man  vor 2010  die Behauptung, dass sich klerikaler sexueller Missbrauch in Deutschland im Gegensatz zu Irland und der USA auf Einzelfälle beschränke, obwohl man bei den diözesanen Instituten nach den Jahrzehnte lang betriebenen Versetzungen und Vertuschungen um die vielen klerikalen Verbrechen an Kindern Bescheid wusste. Diese Behauptung,  es handle sich um Einzelfälle, wurde am 14. Jänner 2010 widerlegt.  Drei ehemalige Zöglinge  kamen zu Klaus Mertes SJ, dem Leiter des Canisius-Kollegs in Berlin, und berichteten, wie sie  von zwei Patern sexuell missbraucht wurden. Damit traten die inzwischen erwachsenen Männer eine Lawine los, die zur Aufdeckung von tausenden Missbrauchsfällen als auch deren Verschleierung in Deutschland und anschließend in allen Ländern der Welt, wo Katholiken leben, führten. Missbrauch wurde ab 2010 als ein allgemeines kirchliches Systemversagen erkannt. Für die deutsche Kirche wurde 2010 zum Jahr des Missbrauchs. Kardinal Reinhard Marx hat den Opfern des sexuellen Missbrauchs unter dem Dach der katholischen Kirche sein Bedauern ausgedrückt. Erst am 25. 9. 2018 versicherte er, dass die Aufarbeitung nun anfange.  Die deutsche Bischofskonferenz gab den Auftrag zum Forschungsprojekt über Missbrauchsgeschehen in den 27 Diözesen Deutschlands, zur sogenannten MHG Studie. Das Kürzel „MHG“ steht für Mannheim, Heidelberg, Gießen und bezeichnet ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Thema sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche Deutschlands. Laut der MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz wurden 3677 Kinder und Jugendliche seit dem zweiten Weltkrieg von katholischen Geistlichen sexuell missbraucht. Der Leiter der MHG-Studie, Harald Dreißing, geht allerdings davon aus, dass Akten vernichtet wurden, manipuliert  wurden oder verloren gingen, sodass Spuren von Verbrechen getilgt sind.  Sogenannte Hellfeldstudien müssen mit diesen Einschränkungen leben. Die Diözese Münster beteiligte  sich zwar auch an der kirchlichen MHG-Studie, nach der es 450 Missbrauchsopfer gibt. Diese Diözese  stellte aber ihre Archive online, gab eine eigene Studie in Auftrag und hat den Forschern Unabhängigkeit zugesichert. Laut der über zwei Jahre dauernden Forschungsarbeit eines fünfköpfigen Teams von Zeithistorikern gab es von 1945 bis 2020 nicht 450 sondern 610 bekannte minderjährige Opfer von sexuellem Missbrauch und fast 200 missbrauchende Kleriker. Damit sind 4,17 Prozent der Priester dieser Diözese betroffen. Die Zahl von 610 Missbrauchsopfern ist damit um ein Drittel höher als in der 2018 präsentierten bischöflichen MHG-Studie. Die an der Studie beteiligte Historikerin Natalie Prowroznik sagte, die 610 Opfer seien nur das Hellfeld, das sich aus den Akten ergebe. Aus vergleichbaren Fällen sei von einem Dunkelfeld auszugehen,  welches acht- bis zehnmal so groß sei. Es gebe also etwa 5 000 bis 6 000 betroffene Mädchen und Jungen im Bistum Münster.

Frankreich: „In Frankreich wurde methodisch anders vorgegangen. Man bemühte sich um die Ausleuchtung des Dunkelfeldes. Die Bischofskonferenz setzte eine unabhängige Kommission unter der Leitung  des früheren Präsidenten der Verwaltungsakademie für die Missbrauchsstudie ein. Am 5. Oktober 2021 wurde diese vorgestellt: Seit 1950 gibt es geschätzte 216 000 minderjährige Opfer von sexueller Gewalt durch circa 2 000 katholische Geistliche. Zähle man Laien und Mitarbeiter der katholischen Kirche zum Kreis der Täter hinzu, erhöhe sich die Zahl der Täter auf ungefähr 3 000 und man komme auf 330 000 Betroffene. Im Vergleich zur MHG-Studie nehmen sich diese Zahlen gewaltig aus. In der Dunkelfeldforschung gibt es natürlich auch Unsicherheitsfaktoren. Im Fall der französischen Studie gehen die Verfasser davon aus, dass mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent die Zahl der Betroffenen von sexualisierter Gewalt zwischen 265 000 und 396 000 Personen liegt.“[4]

Österreich: Auch in Österreich waren bis 2010 Verschleierungen sowohl von staatlicher, erst recht von kirchlicher Seite her allgemein üblich, um den Ruf der Heiligen Mutter Kirche mit ihrem angeblich hohen moralischen Standard zu schützen. Nicht einmal als Kleriker erfuhr man vom Skandal des Priesters Josef Seidnitzer, der wegen verschiedener Sexualdelikte in den 1950er Jahren dreimal rechtskräftig verurteilt wurde und zwei Jahre im Kerker saß. Er wurde zwar 1979 vom Priesteramt suspendiert, aber 1979 auf Betreiben des Bischofs Paul Hnilica innerkirchlich rehabilitiert. Auch vor 2010, nämlich 1995, gelang es nicht, die Affäre des Erzbischofs von Wien, Hans Hermann Groer, zu vertuschen. Mehrere Jugendliche erhoben Vorwürfe wegen des sexuellen Missbrauchs. Hubertus Czernin hat den Fall Groer veröffentlicht.[5] Eine weitere Affäre wurde vor 2010 bekannt. Im Jahr 2004 wurden auf dem Computer eines 27-jährigen Priesterschülers im Seminar des Bistums St. Pölten zahlreiche kinderpornographische Dateien entdeckt. Der Student wurde zu einer halbjährigen Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt. Der zuständige Bischof Kurt Krenn lehnte zunächst trotz öffentlichen Drucks einen Rücktritt ab. Am 29. September trat er zurück. Ab 8. März 2010 gab es eine Lawine von Publizierungen des sexuellen Missbrauchs an Kindern.[6]  Der Skandale sind zu viele, um hier angeführt zu werden. Hier nur kurz einige Zahlen von der Klasnic-Kommission in Österreich. 2011 gab es 909 Meldungen. 837 davon wurden als plausibel bewertet. Am 31. August 2021 wurden in 2 550 Fällen Zahlungen bewilligt. Bisher wurden 30 Millionen Euro ausgegeben, durchschnittlich pro Person 12 940 Euro. Die Forderung der Theologin Martina Greiner-Lebenbauer, auch in Österreich Untersuchungen der diözesanen Archive nach sexuellem Missbrauch durchzuführen, stieß auf taube Ohren.

Vorarlberg: Hier nur ein kurzer Blick in das angeblich besonders heilige Ländle. Öffentlich bekannt wurden die Fälle im Kloster Mehrerau. Ein Pater wurde wegen Missbrauchs suspendiert und von der Klosterschule entfernt; ein gegen ihn angestrengtes  Verfahren  wegen Verjährung eingestellt. Der wegen seiner populären, seichten Fernsehpredigten bekannte Kaplan August Paterno wurde in der Vorarlberger Kulturzeitschrift wiederholt unter „ Mein Gott Gustl!“ verulkt.  Auch ihm wurde  sexueller Missbrauch mit zehn jungen Leuten vorgeworfen. Staatsanwaltschaft und Kirche überprüften den Fall. Dieses Verfahren wurde ebenfalls wegen Verjährung eingestellt. Danach zog sich Paterno weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Die Dunkelziffer der Verbrechen im Heiligen Ländle dürfte der in all den anderen katholischen Ländern entsprechen. In den Archiven der Diözese und der Landesregierung sind die Vorfälle, von denen es viele Gerüchte gibt, eventuell gespeichert, falls man sie nicht vorsorglich gelöscht hat. Weder Landesregierung noch Diözese haben ihre Archive  wie die Diözese Münster online gestellt.

Sucht  man neuere Literatur über den sexuellen Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche ist man verwundert über die  vielen Arbeiten von pseudoprogressiven Theologen und fromm gebliebenen, sehr kritischen Autoren, die als Mitglieder der Institution diese zu reformieren und zu retten versuchen. Als ein Prototyp dieser Kirchenretter erweist sich neben dem inzwischen verstorbenen Hans Küng[7] der Massenschreiberling  Wunibald Müller mit seinem Buch „Verbrechen ohne Ende“.  Es ist erstaunlich, was Theologen und fromme Religionslehrer inzwischen alles lehren und schreiben dürfen ohne der Rota romana (Nachfolgerin der Inquisition) zu verfallen. Müller schreibt zwar, man müsse den Finger in die Wunde legen, aber das riskiert er letztlich nicht. Den Finger in die Wunde legen würde heißen, sich einfach der  Zusammenfassung „Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche nach Ländern“[8] zu stellen. Bei einigen dieser Länder, unter anderen Deutschland und Österreich, sind spezielle Hauptartikel angeführt. Dort würde Wunibald Müller die abertausend Missbrauchsverbrechen der Kirche in 41 Ländern finden, obwohl diese öffentlich gewordenen Zahlen nur einen Bruchteil der Verbrechen ausmachen. Die Dunkelziffern sind weitaus höher, denn die kirchlichen Archive werden nicht geöffnet. Nur das Bistum Münster hat seine Archive Online gestellt und Historiker konnten die konkreten Missbräuche feststellen. Deren  Studie zeigt das eigentliche Ausmaß der Skandale und es ist davon auszugehen, dass die Diskrepanz  zwischen den publik gewordenen  und den konkreten Zahlen auch in all den andern Diözesen ebenso gravierend ist.  Im gesamten katholischen Orbit ist der Prozess der Publizierung  des Missbrauchs nicht so weit fortgeschritten wie in Teilen Europas und Nordamerikas. Anzunehmen ist, dass die Praxis des Missbrauchs geistlicher Macht und von Übergriffen auf Schutzbefohlene in vielen Teilen der Welt nicht weniger gravierend ist, diese Verbrechen aber nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Um nur zwei Indizien aus einer langen Liste von Hinweisen zu nennen, die diese Vermutung bekräftigen: Amerikanische Aktivisten sammelten in der Datenbank Bishop Accountability von 2003 bis zum Oktober 2021 die Namen von insgesamt 90 katholischen Bischöfen, denen persönlich vorgeworfen wird, missbraucht zu haben. 42 weitere Oberhirten stehen im Verdacht, übergriffig gegenüber Erwachsenen geworden zu sein.[9]

Noch 1951 waren 90 Prozent der Bevölkerung Österreichs Mitglieder der katholischen Kirche. 2022 sind es nur mehr 52,3 Prozent. Im Jahre 2021 sind mit 72 500 die meisten Austritte in einem Jahr zu verzeichnen. Das eigentliche Problem der Kirche sind aber die ca. 90 Prozent der Formalkatholiken, die innerlich emigriert sind. Sie wissen weder was sie glauben müssten und wenn man es ihnen mitteilt, finden sie es für gewöhnlich lächerlich und meinen, dass Dogmen, absolute Glaubenslehren nur früher galten. Die Ideen der Aufklärung sind auch für die meisten Kirchenmitglieder zur Selbstverständlichkeit geworden. Für diesen Glaubensverlust und für den Niedergang der Kirche sind aber auch die tausendfachen klerikalen Verbrechen an Kindern schuld.

Der hier wiederholt zitierte Zeithistoriker Thomas  Großbölting gibt verschiedene Ursachen dieser Verbrechen des sexuellen Missbrauch von Kindern in der Kirche an, aber die eigentliche Ursache, den fundamentale Grund erwähnt er nur indirekt, nämlich die absolutistische Ideologie vom ewigen, vollkommenen  Ursprung alles Seienden, nämlich  G o t t

Beispielsweise werde die Kirche selbst als Sakrament verstanden, durch welches  G o t t  sich den Menschen vermittle.[10]

Der Priester steht nicht nur der Gemeinde vor, sondern ist durch  die Weihe ein homo dei, ein Mann G o t t e s . [11]

Der katholische Priester war mehr  als nur ein Gemeindeleiter, er avancierte als Hochwürden nicht nur zur Vermittlung, sondern auch zur Verkörperung des  G ö t t l i c h e n  gegenüber den Menschen.[12]

a) So erklärt Großbölting: „ Theologisch betrachtet verfügt der Priester über eine besondere göttliche Gnadengabe: die Weihe. Durch diese erlangt der Priester Anteil an der Vollmacht Jesu Christi und vertritt diesen in Persona. Das Weihesakrament wird dabei selbst als Handeln Gottes verstanden, welches den Priester mit dem unauslöschlichen Prägemal (charakter indelebilis) versieht, das durch den Menschen nicht einfach wieder ausgelöscht werden kann, nicht einmal aufgrund einer schweren Sünde.“[13]

b) Die Priester als Vertreter Gottes sind dadurch in eine besondere Position gehoben. Die Folge ist Klerikalismus, Selbstherrlichkeit und Hochmut und eine besondere Form der Täterideologie. Sie ermöglicht sowohl die Taten als auch das Vertuschen durch die kirchliche Führung.[14]

c) Großbölting weist auf die bestehende kirchliche Machtstruktur nach dem Modell einer absolutistischen Monarchie hin. Durch die Offenbarung sei die Kirche ihrem inneren Wesen nach keine Demokratie, da der göttliche Stifterwille nicht volatilen, veränderlichen Mehrheitsverhältnissen unterliege.[15]

Beim fundamentalen Grund klerikalen Kindesmissbrauchs ist vom oben beschriebenen christlichen Gott auszugehen. An sich ist der Gottesbegriff nicht klar definiert. Historisch gab es viele verschiedene Götter. 4000 Jahre vor unserer Zeitrechnung hat der ägyptische König Echnaton die Ein-Gott-Lehre, den Monotheismus, mit Gewalt eingeführt. Dieser hat sich erst viel später im Judentum, Christentum und Islam durgesetzt. Heute existieren die verschiedensten Gottesbegriffe und fast jeder hat eine eigene Vorstellung, vom „Etwas muss es doch geben“ bis zum „unvorstellbaren  Gott“. „Über Unvorstellbares kann man logischerweise keine Aussage machen, denn das Unvorstellbare liegt per definitionem jenseits unserer Vorstellung. Es  wäre absurd, die Existenz eines ‚unvorstellbaren Gottes‘ zu bestreiten oder zu behaupten.“[16]

Das christliche Standardmodell,  Gott der Allmächtige, Allwissende, Allgütige, der die Welt erschaffen haben soll, war für Leibniz ein Problem, das sogenannte Theodizee Problem. Warum gibt es so viel Leid und Ungerechtigkeit auf diesem Planeten. Will Gott dieses Leid, dann ist er nicht allgütig, sondern ein Sadist. Will er das Leid nicht, dann ist er nicht allmächtig, da er das Leid nicht beseitigen kann.[17]  Auf das Theodizee Problem hat die Theologie keine Antwort. Gott, diese irrationale, absolutistische Figur wird immer noch Kindern durch Eltern bereits im vorrationalen Alter internalisiert und anschließend in Schule und Gesellschaft zementiert. Daher sind Kinder und Jugendliche den pädophilen Klerikern in besonderer Weise ausgeliefert. Die missbrauchenden Priester können als Vertreter Gottes, des Allerhöchsten, diese Situation ausnützen. Missbrauchte Kinder wagen es oft nicht, ihren Eltern die grauenvollen Erlebnisse des Missbrauchs zu erzählen. Die Folgen sind oft lebenslange psychische und physische Leiden.

Wer meint, es aushalten zu können, lese die Zusammenfassung  dieser katholischen Grausamkeiten.[18]

Der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Kleriker wird sicher geringer werden, weil der zölibatäre Klerus am Aussterben und der Priesternachwuchs radikal eingebrochen sind. Die Kirche ist aber noch immer eine finanzielle, gesellschaftliche Großmacht. Durch das Konkordat ist sie mit den staatlichen Institutionen verfilzt und wird in Österreich  jährlich mit drei Milliarden Euro am Leben erhalten. Die Lösung wäre eine klare Trennung von Religionen und Staat. Es ist ein Armutszeugnis, dass weder Grüne, Neos noch Sozialisten fordern, das Konkordat einseitig zu kündigen, obwohl die Kirche zu 90 Prozent nur noch aus Formalmitgliedern besteht.  


[1] Thomas Großbölting, Die schuldigen Hirten, Herder Freiburg 2022, S. 56

[2]  Vgl.: Thomas Großbölting, Die schuldigen Hirten, Herder 2022, S. 58-59

[3]                                    -„-   S. 299

[4] Vgl. : Thomas Großbölting, Die schuldigen Hirten, Herder 2022, S. 94-95

[5] Hubertus Czernin, Das Buch Groer, Eine Kirchenchronik, Thalia. at

[6] Wikipedia: Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche Österreichs

[7] Hans Küng, Ist die Kirche noch zu retten?, Piper Verlag 2012

[8] de.wikipedia.org

[9] Vgl. Thomas Großbölting, Die schuldigen Hirten, Herder 2022, S. 75

[10]   „         „      S. 178

[11]   „        „      S. 178

[12]   „        „      S. 184

[13] Ebd.: vgl. S. 165

[14]    „       S. 179

[15] Ebd.: vgl. S. 170

[16] Michael Schmidt-Salomon & Lea Salomon, Leibniz war kein Butterkeks, Pendo Verlag, 2011, S.  47

[17] www.kulturzeitschrift.at, Artikel 27, Das Theodizee-Problem

[18] Thomas Großbölting, Die schuldigen Hirten, Herder 2022, S. 91-117

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