Von Albert Wittwer
Eine Frau, ein Mann liegt auf der Strasse, offenbar hilflos, möglicherweise verletzt oder schwer krank, hilflos, ohne Kreditkarte, Geld, Papiere.
Was geschieht? Die Passanten gehen achtlos vorbei, ihre kleinen Hunde an der Leine, schieben den Kinderwagen, tragen die Einkaufskörbe? Oder:
Wir fühlen den Puls, rufen die Rettung, hüllen den Hilfsbedürftigen in Decken. Versuchen, ihn zum Trinken zu bewegen. In der Notaufnahme wird er wiederbelebt, versorgt. In die Krankenstation aufgenommen. Ohne Rücksicht auf Geld, Kreditkarte, Versicherungsnummer, Staatsbürgerschaft. Gewiß machen wir es spontan, ohne langes Überlegen. Wir haben unsere „Lebensweise individuell und kollektiv so eingerichtet, daß sie in das gute Spektrum moralischer Werte fällt, daß alle Menschen, (so auch der Verletzte) am Guten teilhaben.“ *)
Mit diesem Handeln bewegen wir uns im Einklang mit der rechtlich verankerten, unverletzlichen Menschenwürde. Sie ist das Fundament der einzelnen Grund- und Freiheitsrechte. Die Menschenrechte im Sinne der Kodifikationen in der Bundesverfassung, in der Europäischen Konvention und der UN-Deklaration betreffen vor allem politische und Freiheitsrechte und damit der demokratischen Rechtsstaatlichkeit; die Freiheit der Person; der persönlichen und geistigen Unversehrtheit; des Eigentums; der Religionsausübung; der Gestaltung des Privat- und Familienlebens.
Doch halt, werden Sie sagen, diese Vorschriften betreffen den europäischen Staat, der uns einen Freiraum verschafft, womit er sich auch von den wohlmeinenderen Diktaturen und den „gelenkten Demokratien“ unterscheidet: Freiheit vom Staat, der Staat unterläßt Eingriffe in die Sphäre der Menschen. Doch die Rettung des hilfsbedürftigen Verletzten ist ein aktives Handeln.
Entwürdigende Behandlung, Grausamkeit und Folter sind ausdrücklich verboten. Schwieriger wird es bei Untätigkeit, etwa dem Unterlassen der Rettung der ohne Hilfe Erfrierenden, Ertrinkenden. Die Hilfe ist immerhin in einigen Kontexten einfachgesetzlich verpflichtend. Aber die Menschenwürde verlangt – von uns, der Gemeinschaft – daß wir diesen Weg fortsetzen:
Beheizte Wohnung, Nahrung, Kleidung, Bildung, Kultur, Partizipation, günstige öffentliche Verkehrsmittel, Gesundheitsversorgung für alle. Und auch übermorgen brauchen unsere Kinder noch Luft zum Atmen. Darüber müssen wir reden. Das müssen wir besser regeln. Wie sich zeigen wird, können wir es uns auch leisten. **)
Einzelne Politiker sogar des christlichen Ufers mögen es vergessen haben, aber die Barmherzigkeit des Samariters, was wir dem geringsten unserer Brüder tun, ist das ethisch Richtige. Die Verantwortung der Funktionäre gegenüber der Gemeinschaft, für die sie arbeiten, fordert nicht, pseudovölkische oder gar noch kleinere, geschlossene Zirkel zu bilden und anderen die Türen zu versperren. Damit entwürdigen wir uns selbst.
Anmerkungen:
*) Universalitätsprinzip der Menschenrechte, Immanuel Kant, Markus Gabriel „Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten“ Ullstein 2020.
**) darüber dann einen eigenen Kommentar im Jahre 2023.