Was die Politik bewegt. Kann uns das egal sein? Leider nicht.

Von Albert Wittwer

Das Koalitionsabkommen in Niederösterreich wirft seinen Schatten voraus – auf die Bundespolitik. Unsere Ratlosigkeit als Wähler spiegelt sich in den Themen, die unsere Politgrößen für wichtig halten.

Hat es jetzt Priorität, die Corona-Pandemie und die Maßnahmen in breitem gesellschaftlichen Konsens aufzuarbeiten und die Menschen, die unter (aus meiner Sicht weitgehend verständlichen Irrtümern) gelitten haben, zu entschädigen? Es ist Zeitverschwendung. Nabelbeschau. Es genügt, wenn sich die Experten im Gesundheitswesen darum kümmern. Als besonders kompetent hat sich der jetzige Gesundheitsminister erwiesen. Er will wohl nicht mehr antreten, umso mehr können wir ihm vertrauen. Abgesehen von den Kindern und Jugendlichen, die wirklich schlecht behandelt worden sind, man denke an die gestrichene Kleinkinderbetreuung, den unsäglichen Fernunterricht von Schulkindern und die Kontaktsperren für Adoleszente, sollten wir zur echten Tagesordnung übergehen. Die Covid-Krise hat die systemimmanenten Benachteiligungen der berufstätigen Mütter und der Kinder entlarvt und verstärkt. 

Müssen wir jetzt die „Wirtshauskultur“ auf Kosten aller Steuerzahler durch einen Gashaus-Bonus für Stammtischbesucher retten? Wir alle, auch die notorischen Antialkoholiker (was wäre ein Stammtisch ohne Achterl-Serie)?

Eine noch aggressivere Asylpolitik, noch mehr Grobheit gegenüber den – aus welchen Gründen immer – Ärmeren, die uns „Anständigen und Tüchtigen“ angeblich unproportional auf der Tasche liegen? Darf ich ein sehr eigensüchtiges, plumpes Argument verwenden: Ich möchte nicht in Gated Communities leben, in bewachten und abgesperrten Wohnblöcken. Wenn ich eine Woche lang vergesse, den Fahrradschuppen abzusperren, sind noch immer alle Räder da. Wir „Anständigen und Tüchtigen“ werden weltanschaulich von den wirklich Reichen mit diesen Streicheleinheiten und der Abgrenzung zu den unwertigen Sündenböcken bei der Stange gehalten, ja nicht aus dem Hamsterradl auszubrechen.

Das Koalitionsabkommen scheint mir die Angst der Menschen vor der Veränderung zu spiegeln. Der Corona-Virus, was für eine Zumutung! Die Klima-Erwärmung: was für eine Zumutung! Die Verteuerung des Wirtshauskonsums: was für eine Zumutung.

Die immerwährend neutrale Politik sollte eingestehen, daß der Staat für ein Rundum-Pampern gegen existenzielle Risiken machtlos ist und bleibt: Neue und alte Krankheiten, Trockenheit und Überschwemmung, Krieg in Europa, CO2-Belastung der Atmosphäre.

Weitgehend machtlos. Auf der Autobahn langsamer fahren? Nur freiwillig! Die Inflation ist kein abstraktes Wetterereignis, sie könnte mit regulatorischen Maßnahmen, etwa gegen maßlose Windfall-Profits der Energieunternehmen, gegen die abstrakte Indexierung der Mieten, als hinge der Mietpreis von den Fleischpreisen ab, deutlich beeinflußt werden. Gut, das widerspricht den Interessen von Unternehmern, die eine bedeutende Partei finanzieren. Geht also nicht. Da ist es schon einfacher, die Asylkarte zu ziehen, sticht bei den Armen, die kaum die Miete zahlen können, immer.

Eine aufrichtige Politik könnte darauf verzichten, unseren billigsten Instinkten, wonach jedes Ausrichten an existenziellen Erfahrungen unsere Komfortzone beleidigt, zu schmeicheln. Der Paradigmenwechsel, den wir gleich erleben werden, ist im Koalitionsabkommen nicht erkennbar. Hermann Hesse hat in „Stufen“ zwar an die Lebensstufen gedacht. Aber mir scheint, er hat auch den Paradigmenwechsel, der auch Chancen bietet, vorhergesehen:

„Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

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