Das Ende des Glaubens an die Ideologie des Christentums

© Bandi Koeck

Bis zum Beginn der Aufklärung um ca. 1700 herrschte in Europa eine einzige Grundidee. Darin gab es das Monopol der christlichen Apostolate. Die einzigen autoritativen Quellen der Wahrheitsfindung  waren die Evangelien. Mit der Aufklärung büßte das Christentum dieses Privileg ein.  Als modern bezeichnen wir eine Gesellschaft, wenn sie einen Pluralismus von Inspirationsquellen zugesteht – sagen wir einen Konfessionen-Markt. Solange in Europa das Mittelalter an der Macht blieb, waren alle Überzeugungen dazu verurteilt, als christliche Apostolate aufzutreten, die, in letzter Instanz, aus der einzigen autoritativen Quelle der Wahrheitsverkündigung – den Evangelien und dem christlichen Missionsauftrag nach Matthäus 28,19 – gespeist werden.

Ein Gastbeitrag von Ex-Priester Adi Untermarzoner

Jesus habe erklärt: „Und ich sage dir: ‚Du bist Petrus (der Fels), und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen und die Pforten der Unterwelt (Hölle) werden sie nicht überwältigen.‘“ Am 29. Juni, dem Fest von Petrus und Paulus, steht dieser Vers 18 aus dem Matthäusevangelium,  Kapitel 16, Vers 13-20, im Messbuch, wird beim Gottesdienst vorgelesen und ist oft auch Thema der anschließenden Predigt. 

Moderne Exegese stellt zu diesem Text fest: Jesus kann diese Worte nicht gesprochen haben, da er keine Kirche gegründet hat. Vielmehr handelt es sich um Worte des „Auferstandenen“, die freilich daran einen Anhalt haben, dass Simon Kephas nach dem Tod Jesu tatsächlich als erster den „Auferstandenen“ gesehen habe (vgl. 1Kor 15,5). Diese Worte wurden von Petrus selbst oder von seinen Anhängern Jesu in den Mund gelegt und anschließend von Matthäus ins Leben Jesu vordatiert. Er ist unecht.[1]    

In den modernen Gesellschaften ist auf dem Konfessionen-Markt das Monopol der Evangelien verschwunden. Der Schutz der Glaubenslehre, der im Mittelalter herrschte,  ging im Zeitalter des Buchmarktes und des Medienpluralismus vollends zu Ende. Der keineswegs unumstößliche Glaube an die Summe der Unwahrscheinlichkeiten, die sich Christentum nennen, muss sich nun, neu-apologetisch, vor einer nicht vorvereinnahmten weltkindlichen Wachheit behaupten. Von da an gilt, dass zur „Substanz“ des Glaubens nur gehört, was die Skepsis der Außenwahrnehmung – die zunehmend in die Selbstwahrnehmung eingebaut wird – überlebt. Daher die große Rückzugsbewegung der neuzeitlichen Konfessionalität auf theologische Axiome und anthropologische „Kerne“.[2]

Diese Rückzugsbewegungen auf die theologischen Axiome finden allerdings primär nur auf den theologischen Instituten und in der veröffentlichten Literatur der vom säkularen Staat finanzierten Theologieprofessoren statt.  Da es aber fast gar keine Theologiestudenten mehr gibt, hat diese Literatur jede Relevanz verloren. Die Masse der Taufscheinkatholiken ist an solcher Literatur völlig desinteressiert. Daher wird Kirchen- und Glaubensrettung über Digital -und Printmedien versucht. Die dazu erscheinenden Artikel sind reine PR und stehen oft im Widerspruch zur verkündeten inhumanen christlichen Lehre.

Selbst in einem sonst anspruchsvollen  Medium wie  dem „Standard“ hat Frau Coudenhove-Kalergi am 2. März dazu ein Muster geliefert. Sie schätzt den angeblich renommierten tschechischen Theologen Thomáš Halík als bewundernswerten Religionsreformer.  Hinsichtlich Theologie macht sie und der von ihr vorgestellte Halík einen unbedarften Eindruck. In seinem, auch in Deutsch erschienenen Buch „Der Nachmittag des Christentums“ meint Halík, „die  Spaltungslinie verlaufe heute nicht mehr zwischen Gläubigen und Ungläubigen, sondern zwischen einem fundamentalistischen ‚Katholizismus ohne Christentum‘ und einer ‚offenen Kirche‘, in der auch Platz für ‚Religionslose‘ ist.“  Mit diesem Beitrag demaskieren beide höchstens ihre theologische Unwissenheit.  Die Idee vom anonymen Christentum wurde vom Theologen Karl Rahner bereits vor sechzig Jahren doziert und war schon damals der naive Versuch, ethisch Gebildete und entsprechend Lebende in die kirchliche Ideologie zu vereinnahmen, obwohl sie diese eindeutig wegen deren menschenfeindlichen Morallehre ablehnten.

Was jedoch in den „Vorarlberger Nachrichten“ in einem aufwändigen Artikel mit großen Bildern von Papst Bergoglio und Bischof Elbs zur Rettung des Katholizismus publiziert wurde, ist an Unredlichkeit  kaum zu überbieten (VN, 26. 1. 2023). Es stellt sich die Frage, für wie naiv halten diese Schreiberlinge die Vorarlberger. Hemmungslos wird behauptet, fett gedruckt und in übergroßer Aufmachung: „Papst und Bischof gegen diskriminierende Gesetze.“ Gemeint sind die Gesetze zur Homosexualität. Bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurden die Gläubigen mit einer leib- und lustfeindlichen, die Sexualität verteufelnden Morallehre drangsaliert, die mit den Normen der Bibel, dem unfehlbaren Wort Gottes begründet wurde. Jede außerhalb der Ehe gesuchte geschlechtliche Lust ist eine Todsünde, wofür man ewig in der Hölle brennt usw.  Elbs behauptet: „Alle arbeiten an einer Gesellschaft mit, in der jeder Mensch in Würde leben kann.“ Dass die Kirche seit ihrem Bestehen Homosexuelle diffamiert hat und damit über Millionen Menschen entsetzliches Leid brachte, wird scheinheilig übergangen. Eine Entschuldigung für diese Verbrechen kommt den heuchlerischen, frommen Theologen nicht über die Lippen.

Im Internet, unter Vorarlberg Online, erschien auch eine aufwändige Laudatio auf Bergoglio und Elbs. Wie üblich wird von Reformen gesprochen, obwohl an den angeblich göttlichen Moralnormen festgehalten wird. Die Autorin des Artikels, Magdalena Raos, muss gestehen, dass Priesterweihe für Frauen und Segnung von Homosexuellen weiterhin abgelehnt werden. Der Zölibat war seit seiner Einführung im 12. Jahrhundert die primäre Ursache für die Anhäufung homosexueller und pädophiler Kleriker. Der immer noch gläubige, fromme Katholik Wunibald Müller behauptet, dass bis zu 30 % der katholischen Priester homosexuell sind.[3] Diese Misere ist die sterbende Kirche inzwischen aber los, denn es gibt fast keinen Nachwuchs mehr.

Dem allgemeinen Niveau des Blattes WANN & WO entsprechend erschien auch ein Beitrag zum Thema Kirchenuntergang. Eine gläubige, katholische 25-Jährige Frau namens Rebekka Bacher, die sich bei „Dive in“ engagiert, möchte auch die Kirche reformieren. Offensichtlich hat sie auch einige Ideen der Kirchenretter, wie sie beim synodalen Treffen in der BRD vertreten wurden, vernommen. Solche Änderungsprogramme sind der bisherigen katholischen Morallehre kontradiktorisch entgegengesetzt und sind nur der Versuch, das Schwinden des Glaubens an diese inhumane Ideologie zu stoppen.

Unter dem Druck wissenschaftlicher Forschung wird die christliche Religion regelrecht skelettiert. Zwei Jahrhunderte Analyse durch Philosophen des Humanismus haben genügt, um aus der zweitausendjährigen allgegenwärtigen Macht eine Restgröße zu machen. Sie ist auf ein Dienstleistungsunternehmen reduziert, für Sinngebung in entscheidenden Situationen wie Taufe, Hochzeit und Beerdigung. Sobald Eltern, die meistens noch kirchlich fixiert waren, ihr Requiem erhalten haben, gibt es für deren Nachkommen meistens kein Motiv mehr, bei der Institution zu bleiben.

Inzwischen ist der Zivilisationsprozess der Mehrheit moderner Populationen bestimmt von einer umfassenden Individualisierung  der Lebensformen und  richtet sich auf informelle und private Manifestationen von Restreligiosität ein. Die formalen Glieder der Kirche konstruieren sich selbst eine individuelle Glaubenslehre und glauben, was sie vernünftig finden.

Vor zehn Jahren schrieb der, zwar mit Lehrverbot (Entzug der Missio Canonica) belegte, aber bis zu seinem Tod die Hl. Messe zelebrierende Schweizer Theologe Hans Küng im Buch „Ist die Kirche noch zu retten?“  über eine kranke, gar sterbende Kirche. Unmittelbar danach veröffentlichte der ehemalige Ordinarius der Theologischen Universität Wiens über Hans Küng das Buch „Warum auch Hans Küng die Kirche nicht retten kann“.[4]  Die sterbenskranke Kirche ist inzwischen weltanschaulich gestorben und ist nicht mehr therapierbar.  

1951 waren noch 90 % der Österreicher bei der katholischen Kirche. 2022 waren es nur mehr 52,3%. Die Kirchenaustrittszahlen steigen kontinuierlich an. Waren es 2021 schon 72 500, im Jahr 2022 bereits 90 800, die sich von der Kirche auch als Formalkatholiken verabschiedeten. Allerdings ist der Verlust des  Glaubens an die fundamentalen Lehren jener, die noch bei der Institution sind, weitaus größer. Erklärt man diesen Pseudomitgliedern einige Dogmen, an die sie glauben müssen, erntet man meistens peinliches Grinsen oder die unsinnige Behauptung, das sei nur früher zu  glauben gewesen, als ob die Kirche je ein Dogma abgeschafft hätte. Solche Einstellungen vertritt nicht nur die Masse derer, die sich überhaupt nicht mehr mit ihrer Religion befassen. Diese Meinungen findet man selbst bei Religionslehrern und bei Katholiken, die aktiv beim Gottesdienst sind und Kommunion austeilen. Wer heuer die Zahlen der Gottesdienstbesucher mit denen vor zehn oder gar fünfzig Jahren vergleicht, kann sich selbst davon überzeugen, in dem er bei den Sonntagsmessen den kleinen Rest der Schein-Frommen zählt. Ungefähr um die 2% der formalen Kirchenmitglieder kann man dort beobachten und es sind durchwegs ältere Semester, die in den kommenden 10 – 20 Jahren  das Lebensende erreichen und ihren Erwartungen und der kirchlichen Lehre entsprechend eventuell für einige Zeit im Fegfeuer schmoren und hoffen, anschließend für ewig im Himmel zu landen. Wer allerdings die rigorose katholische Morallehre der vergangenen Jahrhunderte kennt, dürften gemäß dieser Lehre die meisten von ihnen auch ewig im Höllenfeuer sengen. Von dieser brutalen Morallehre  wurde zwar kein Jota zurückgenommen, aber sie wird den Mitgliedern wohlweislich auch nicht mehr zugemutet, um nicht noch mehr Austritte zu provozieren. In der Apsis der Kirche in Hatlerdorf und in vielen anderen Kirchen und Kathedralen werden Höllenszenen in martialischen, kitschig schaurigen, überdimensionalen Gemälden anschaulich vermittelt.

Entsprechend der inhumanen christlichen Lehre müsste der oben zitierte Theologe und Priester Hans Küng im Feuer der Hölle schmoren, denn er lebte, wie er zugab, im Sinne einer „vorbildlichen Wegkameradschaft“ mit einer Frau bis zu ihren Tod zusammen. Ein Schelm, wer unter „vorbildlicher Wegkameradschaft“ an Unkeuschheit oder an normal Menschliches denkt. Freilich, nach der von Küng persönlich vertretenen Ethik, gab es da nichts Schlechtes. Schlechtes gab es in dieser Hinsicht nur nach der lustfeindlichen, durch die Jahrhunderte gelehrten stupiden katholischen Sexualmoral, die er allerdings in seinem Status als geweihter Kleriker hätte praktizieren und  vertreten müssen.  Wer die katholische Morallehre in Bezug zur Sexualität kennt, weiß, wie die frommen Kirchenmitglieder und vor allem die gläubigen Frauen unter dieser leib- und lustfeindlichen Perversion litten. Männern gelang es eher, sich davon zu befreien, obwohl sie meistens die Initiatoren der verbotenen Interruptio oder der anderen empfängnisverhindernden Methoden waren und somit auch die eigentlichen Verursacher der Schuldgefühle ihrer Frauen.

Es ist den Frauenbewegungen des 19. Jahrhunderts und der 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zu verdanken, dass sich inzwischen auch die Frauen von der Institution, in deren angeblich heiligen Büchern sie vielfach abgewertet wurden, verabschiedet haben. Lange hielten vor allem die Frauen an der Kirche fest. Inzwischen haben auch sie die Kirche mental verlassen, obwohl sie noch eher formal bei der Kirche sind.

Wer diese das Volk verdummende Institutionen am Leben erhält, sind unsere Politiker, die nicht den Mut aufbringen, der geschilderten kirchlichen und gesellschaftlichen Realität entsprechend Kirchenprivilegien, theologische Universitätsinstitute und Religionsunterricht an staatlichen Schulen abzuschaffen und eine klare Trennung von Kirche und Staat herzustellen. Das Problem sind nicht nur die Milliarden, die der Staat an die Religionen verschleudert, sondern, die Menschen in dieser verlogenen, ethisch reaktionären Einstellung existieren zu lassen. 90% der 52,3%  Katholiken Österreichs sind es gewohnt bei einer Institution zu sein, deren Ideologie und Lehre sie weder kennen, akzeptieren noch praktizieren. Diese Menschen werden regelrecht verführt zu ethisch unverantwortbarer, opportunistischer Angepasstheit.  Sie sind dadurch eine Gefahr für die Demokratie und sind anfällig, anderen, noch gefährlicheren Ideologien zu verfallen. Zu welchen Katastrophen das führen kann, dafür gibt es viele historische Beispiele.

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[1] Gerd Lüdemann, Jesus nach 2000 Jahren, S. 252, Verlag zu Klampen 2012

[2] Vgl.  Peter Sloterdijk, „Nach Gott“, S. 284, Suhrkamp 2017

[3] Wunibald Müller, Verbrechen ohne Ende, Verlag Echter 2020, S. 62

[4] Hubertus Mynarek,  Warum auch Hans Küng die Kirche nicht retten kann?,  Tectum 2012

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