Das Vorarlberger Kinderdorf geht neue Wege in der Arbeit mit Kindern, die Gewalt und Vernachlässigung erlebten.
Die Zusammenarbeit mit Eltern und Kindern in äußerst belastenden Lebenssituationen ist auch für die Profis herausfordernd und verlangt fundiertes Know-how. „Ein wichtiger Ansatz ist für uns die Traumapädagogik“, erklärt Kinderschutzexpertin Claudia Gössler vom Vorarlberger Kinderdorf. Seit Jahren bietet die Kinderschutzeinrichtung interne Fortbildungen, um die fachliche Entwicklung anzukurbeln und die Mitarbeitenden für ihre anspruchsvolle Aufgabe zu stärken. Traumapädagogik als Chance „Die von uns betreuten Kinder sind in ihrem Verhalten oft irritierend, sie stoßen uns vor den Kopf, machen auch ohnmächtig“, so die Psychologin. „Es braucht fachliche Methoden und adäquate Formen der Beziehungsgestaltung, damit unsere Begleitung stärkend und heilend wirken kann, damit sich die Kinder gesund entwickeln können.“ Vor allem mit dem renommierten Traumaexperten Lutz Besser verbindet das Vorarlberger Kinderdorf eine enge Kooperation. Diese wurde nun mit Workshops und einem Fachvortrag des Kinder- und Jugendpsychiaters fortgesetzt.
Vor Trauma nicht gefeit Grundsätzlich ist niemand davor gefeit, traumatisierende Erfahrungen zu machen – auch Profis nicht. „Traumatische Ereignisse legen jeden Menschen mehr oder weniger lahm. Nichts ist mehr, wie es vorher war, das Vertrauen in die Welt wird erschüttert“, erläuterte Lutz Besser in seinem Vortrag. Auch höchst bedrohliche Nachrichten könnten zu Traumareaktionen führen, hielt der Fachmann mit Blick auf den aufgeflammten Krieg in Europa fest. „Sie schleichen sich in unser Bewusstsein und machen Angst.“ Abseits der Trampelpfade Wie gut es uns gelingt, Traumata zu integrieren, dafür sind vor allem die Erfahrungen unserer frühen Kindheit ausschlaggebend. „In den ersten Lebensjahren werden die basalen Hirnfunktionen festgelegt“, erklärte Besser. Denn das Gehirn, in dem unsere Persönlichkeitsstruktur sitzt, bildet sich in Abhängigkeit von Erfahrungen und Nutzungsbedingungen. Je mehr positive Beziehungs- und Bindungserfahrungen ein Kind macht, desto größer ist seine Resilienz. Anders ausgedrückt: Je sicherer gebunden Kinder aufwachsen, desto eher können sie auch schlimme Erlebnisse verarbeiten und bewältigen. „Die psychosozialen Erfahrungen in der frühen Kindheit bilden den Nährboden für unser genetisches Potenzial. Fehlen Geborgenheit, Sicherheit, ein Nest, kann sich das Potenzial nicht entfalten“, so der Arzt und Therapeut. „Dabei nutzt das Gehirn am liebsten die Trampelpfade, die bequemsten Wege, und greift gerade in Stresssituationen auf alt bekannte Muster zurück, auch wenn diese destruktiv sind.“
Zuhören, hinschauen In der Traumapädagogik geht es darum, neue Wege zu begehen, um Kindern, die oft über Jahre hinweg Gewalt und Vernachlässigung erlebten, ein gelingendes Leben zu ermöglichen. „Diese Kinder stehen unter Dauerstress, ständig schrillen bei ihnen die Alarmglocken. Sie sind auf erwachsene Menschen angewiesen, die respekt- und liebevoll mit ihnen umgehen, die zuhören und hinschauen. Um zu verstehen, dass die Gründe für ihr auffälliges Verhalten in tiefen, nicht verheilten Wunden der Kindheit liegen. Sie brauchen unser echtes Mitgefühl, Empathie und Feinfühligkeit – einen Schutzraum für ihre verletzten Seelen.“ Traumapädagogik setze starke, zuversichtliche, mutige Erwachsene voraus. „Die Helfer:innen müssen sich auf eine fachliche, wertschätzende Unterstützung durch Führungspersonen und eine gute Co-Regulation im Team verlassen können.“
Scharfer Blick und Frühe Hilfen Im Kinderschutz sei genaues Hinschauen unabdingbar, um Abwärtsspiralen zu durchbrechen. „Gefragt ist ein scharfer Blick, wie wir Gefährdungspotenziale nicht nur minimieren, sondern präventiv verhindern können.“ Der Traumaexperte warnte in seinem Vortrag davor, Unterstützungsmaßnahmen in belasteten Familien zu früh zu beenden. „Gerade Vernachlässigung von Kindern wird oft bagatellisiert, dabei führt sie genauso wie Gewalt zu Traumatisierungen und Entwicklungsstörungen.“ Eine Intensivierung der Frühen Hilfen, tragfähige Unterstützungsnetzwerke für Eltern, Gewaltschutz und forcierte Prävention seien deshalb ein Gebot der Stunde.
Text: Christine Flatz-Posch