Wiedereintritt in die Geschichte
Die meisten heute lebenden Menschen, mich eingeschlossen, sind bisher vom Schicksal, den Zeitläufen, außerordentlich verwöhnt. Klar, im hochpersönlichen Bereich mag uns Krankheit und der Verlust von uns lieben Menschen zugestoßen sein oder bevorstehen. Dennoch schaudern wir heute über die Weltnachrichten. Auch wenn wir aus Psychohygiene darauf verzichten, unsere kostbare Aufmerksamkeit auf Portalen selbsternannter System- und Verschwörungs-Aufdecker zu vergeuden.
Von Dr. Albert Wittwer
Vor dem kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine haben wir in Europa eine nie zuvor dagewesene Friedensepoche erlebt, so tiefgreifend und vermeintlich unumkehrbar, dass der Zeithistoriker Francis Fukuyama, wie manche seiner Zunft eine Art akademischer Nachkriegs-Berichterstatter, ein weltweit beachtetes Buch mit dem Titel „Das Ende der Geschichte“ krönte. Wie lange hält das Containment, die Eingrenzung der aktuellen Kriege? Anders als in Europa herrschte zwischen dem seit Jahrzehnten notleidenden Gaza, dem Westjordanland und Israel vor dem aktuellen Krieg kein Friede. Beide Konflikte, Russlands Angriffskrieg und Israels „Ausschaltung“ der Hamas sind noch regional. Tatsächlich haben alle Kriegsparteien Verbündete, Unterstützende auf der Welt.
Neutralität
Trägt unsere „immerwährende“, äußerst spärlich bewaffnete Neutralität heute zum Frieden bei? Als zweieiigen Zwilling der Schweiz sehen sich die Österreicher. Nicht so sehr die Schweizer, für die sind wir eher – unter den Kleinstaaten – die Lachnummer. Auch die vor-kantianische Dramaturgie der Völkerführer brauchte wie bei Shakespeare, Schurken und Helden und eben auch die Narren. Man denke an das bei uns unbekannte Phänomen der Österreicher-Witze. Für die Schurken sind die Neutralen wichtiger als für die Helden. Wo sollen die Oligarchen, die durchaus Kriege führen, bevor sie selbst im Gefängnis landen, sonst ihr Geld parken? Wo ihre Fluchtvillen in bester Lage kaufen? Ihrem eigenen Staat können sie nicht trauen – Prigoschins Erben lassen grüßen.
Universalitätsprinizip
Immanuel Kant beschrieb das Ende aller Kriege, den ewigen Frieden. Er sah darin keinen natürlichen Zustand, keine einmal erreichte, immerwährende Errungenschaft. Der Friede muss gestiftet, gehütet und abgesichert werden. Er zählt für die ganze Menschheit und verheißt Sicherheit jedes Einzelnen und seiner Lebensgrundlagen. Kants Lehren führten u.a. zum Völkerbund, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Europäischen Union. Sie widersprechen dem neu entstehenden autoritären Nationalismus.
Das Prinzip Hoffnung
Was einmal gelang, Verzicht auf Rache, Aussöhnung und Friede, wird uns wieder gelingen. Neutrales Trittbrettfahren birgt dafür keine Hoffnung, trägt nichts dazu bei. Hoffnung zielt darauf, Tatsachen zu ändern. Geben wir der Verführung des Pessimismus nach, ist die Menschheit wirklich verloren. Von den mehr als vier Milliarden Menschen auf der Erde sind trotz der eingangs erwähnten und anderer regionaler Kriege wohl neun Zehntel von Krieg verschont. Das ist nach dem Historiker Juwal Harari noch immer eine menschheitsgeschichtliche Ausnahme. Er sagt vorher, dass wir nur zur dann Nachkriegsfriedensära zurückkehren, wenn Putin den Krieg nicht gewinnt.
Anmerkungen:
- Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden, 1795. Ihm zu Ehren hat Putin im Jahre 2005 die Universität Kaliningrad in Immanuel-Kant-Universität umbenannt.
- Susan Neiman zum Prinzip Hoffnung, Einstein Forum Potsdam.