Wir werden nicht ärmer
Die Bauern protestieren. Die Lehrer, die Ärztinnen, die Pfleger, die Flughafen-Sicherheitsbediensteten und natürlich immer wieder die (deutschen) Eisenbahner. Sicher nicht die „Global Strategists“ oder die „Compliance Officers“ u.ä., allesamt in „bullshit-jobs“ (David Graeber), pardon Manager“. Klar, die streiken ja nie. Zu viel Kaviar und dünne Luft im Privatlieger.
Von Dr. Albert Wittwer
Nach gefühlt schon ewigwährendem Heilsversprechen, daß wir immer wohlhabender werden, immer mehr konsumieren dürfen, müssen, beschleicht uns der Verdacht: es kann wohl so nicht weitergehen. Stellen wir fest: Wir treten auf der Stelle. Oder fallen gar zurück! Wir sollen immer mehr heilen, pflegen, noch mehr Kinder von schwierigen Eltern unterrichten, pünktlicher ankommen. Wir sollen mehr für den Agrardiesel zahlen. Sonst gefährden wir das Wirtschaftswachstum und das kostet Arbeitsplätze. Keine Rede davon, daß wir uns das Einfamilienhaus im Garten mit Zierrasen, mickrige Arbeiter-Kopie des englischen Adelslandsitzes, noch jemals leisten könnten oder dürfen.
Das betrifft nur uns „Leistungsträger“.
Leistungsträger, wer soll das sein? Es ist die beliebte Einteilung der konservativen Spitzenpolitiker für die überstundenaffinenen Werktätigen, die auch während der Nacht das Diensthandy neben dem Kopfkissen lagern. Im Gegensatz zum Heer der unbezahlten Care-Arbeiterinnen und Ehrenamtlichen und der Eingewanderten, die nicht arbeiten dürfen, es sei denn für ein Taschengeld, die faulen Säcke.
Wir Streikenden wollen vordergründig einen größeren Anteil am Sozialprodukt, also mehr Gehalt. Oder weniger Stunden arbeiten. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, daß ich oben von Mangelberufen schreibe, bei denen man sich die Arbeitsstelle fast aussuchen kann. Nicht von den „freigesetzten“ Mitarbeitern des österreichischen, betrieblichen Mittelstandes.
Die echte Arbeit, welcher Art immer, trägt ihren Lohn in sich selbst, in der Werkanschauung. In der Begegnung mit Menschen, der Natur. Aber im Subtext ist uns klar, daß der soziale Kontrakt, der die Rolle jedes Einzelnen im gesellschaftlichen, dominant ökonomischen System bestimmt, in Auflösung begriffen ist. Es genügt nicht, von „auf Augenhöhe“ und „mehr Respekt“ zu schwafeln. Wir sind zu klug, unseren Ärger auf Phantome, Überfremdung, Klimakleber, Wissenschaftlerinnen, Sozialschmarotzer und Umweltschützer zu richten.
Wir brauchen ein neues Narrativ.
Davon schreiben die Ethiker unter den Philosophen, etliche aufgeklärte Ökonomen, aber wer liest schon? Wenige Politiker reden davon, wir müssen schon genau zuhören.
Unsere Verfasstheit ist nicht unabänderlich. Dazu ein Blick in die Geschichte, frei nach Wengrow und in die Zukunft nach Ritschie:
Wengrow: In jedem Winkel des Planeten gab und gibt es Spuren von Freiheit, Unfreiheit oder großer Fürsorge – alles längst da gewesen. Versuche und Irrtümer. Keine Entwicklung ist alternativlos.
Ritschie: Strom aus Kohlekraftwerken ist achthundertmal tödlicher als Atomstrom. Die kurzfristige Speicherung von Energie (aus Sonne, Wind, Wasser) ist gelöst, die langfristige ist lösbar. „Wir haben keine Zeit, das kapitalistische System zu stürzen, wir müssen die auf dem Tisch liegenden Lösungen innerhalb des Systems einsetzen. Vor allem: Die Umweltkosten rasch in den Preis der Produkte einpreisen.
Alberts Notion I: Lebensmittel und beheiztes Wohnen dem „freien Markt“ entziehen. Ähnlich wie schon lange Bildung, Gesundheitswesen, öffentlicher Verkehr.
PS:
Ärmer werden wir nicht. Der wahre Reichtum sind die Familie, die Freundinnen und Freunde, die sozialen Beziehungen, das Wandern und Radfahren in der Natur, die Musik… bitte führen Sie die Liste für sich fort!
Anmerkungen:
Leseempfehlungen:
- Markus Gabriel: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten;
- Ulrich Schnabel: Zusammen. Wie wir mit Gemeinsinn Krisen bewältigen;
- Thomas Metzinger: Bewußtseinskultur.