Der renommierte Vorarlberger Historiker und Gründer der Rheticus Gesellschaft, Univ.-Prof. Dr. Gerhard Wanner, stellt Gsi.News seine erst Ende 2025 veröffentlichte Publikation zu einem Thema zur Verfügung, welches in der Geschichtsschreibung ein Novum darstellt und seinesgleichen sucht: Das Leben der Frau vor 100 Jahren. Teil 3 widmet sich Erziehung, Schulbildung und Studium
Erziehung, Schulbildung und Studium
Im Jahr 1919 und 1924 entbrannte in Vorarlberg neuerlich der Kulturkampf um Erziehung und Schule wie einst in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. Er wurde vom Generalvikariat, dem katholischen Lehrerverein und dem Vorarlberger Caritasdirektor, dem Geistlichen Dr. Josef Gorbach entfacht. Zündstoff leistete dabei das Vorarlberger Volksblatt. Hauptfeinde waren die Sozialdemokratie mit ihrer „Freien Schule“, die „Kinderfreunde“ und der Leiter des Unterrichtsministeriums Otto Glöckel. Dieser forderte die Trennung von Kirche und Staat und eine völlige Entkonfessionalisierung der Schulen. Ein Horrorszenarium wurde beschworen – der kommende „sozialistische Schulbolschewismus“, ein „jüdisches Fabrikat“: Kein verpflichtender Religionsunterricht, Religion nicht mehr Prüfungsgegenstand, Entfernung der Kruzifixe in den Klassen, staatliche Überwachung der Katecheten und Marianischen Kongregationen. (VV, 8.4.1924 / W 2008, 68-72)
Die Konservativen beklagten und demonstrierten: „Im sozialistischen Staat gibt es keine Familie in unserem Sinne mehr, sie ist zur Brutanstalt herabgewürdigt. (…) Das Menschliche und Allzu-Menschliche, das Natürliche wird den Zöglingen bekannt werden, das Übernatürliche und Göttliche haben in der sozialistischen Erziehung keinen Platz mehr, weder als Erziehungsmittel, noch als Erziehungsziel.“ (VV, 9.4.1924)
Da seit dem 18. Jahrhundert Schulpflicht bestand, gab es in Vorarlberg im Jahr 1880 nur mehr 2% Analphabeten. Mehr als eine sechsjährige Volksschulausbildung besaßen Feldkirchs Mädchen 1924 nur in wenigen Fällen – das höchste Niveau boten die 1902 von den Kreuzschwestern gegründete Handelsschule und 1912 ihre Volks- und Bürgerschule. Ihre zweiklassige Handelsschule mit Öffentlichkeitsrecht, jedoch mit Schulgeld, ermöglichte Mädchen Aufstiegschancen in den zahlreichen Klein- und Mittelbetrieben und im Bereich der Verwaltung. Sie war die „Nobelschule“ der Mädchen aus dem nahegelegenen Fabrikantenviertel in Levis. Töchter aus Großunternehmen konnten in der Schweiz und in Deutschland höhere private und kostspielige Töchterschulen besuchen. (W 2000, 202 f / Testor, 289-300)
Eine Hürde für ein reguläres höheres Studium von Mädchen waren Feldkirchs Professoren des Staatsgymnasiums, das von seinem einstigen liberalen Kurs abgegangen war. Sie lehnten ein Mädchenstudium an ihrer Anstalt kategorisch ab und aus Konkurrenzgründen auch eine von den großdeutschen Frauenvereinen geforderte kommunale Hauptschule, 1927 als Bürgerschule bezeichnet.
Die Hintergründe für dieses bildungsfeindliche Verhalten versuchte am 26. Jänner 1924 die sozialistische Zeitung Vorarlberger Wacht zu erklären: „Frauen wurden als Mädchen schon auf ihren zukünftigen Beruf als Gattin und Mutter vorbereitet, die Ehe um jeden Preis wurde als Versorgung dargestellt. Dabei hatte das Mädchen nur die Ratschläge der Mutter und der Tanten zu befolgen, um ganz sicher in den Hafen der Ehe zu gelangen. Hatte ein Mädchen aus bürgerlichem Hause den Wunsch nach einem selbständigen Beruf, so galt das als nicht standesgemäß. Höchstens durfte es Lehrerin werden. Und war damit zum Zölibat verdammt.“
Letztlich war die Frauenfrage und damit zusammenhängend eine höhere Mädchenausbildung für die konservative Bevölkerungsmehrheit weitgehend religiösen Normen und Zielsetzungen unterworfen: „Unsere Zeit braucht nicht nur ganze Männer und Väter, sondern ebenso ganze Frauen und besonders ganze Mütter. Erziehung und Bildung aber sollen den Weg zum letzten und höchsten Ziele weisen und erleichtern, den Weg zu Gott.“ (VV, 9.4.1924) Damit ging man konform mit den Vorstellungen der mitgliederstarken katholischen Mädchen- und Frauenvereine, sowie mit den Forderungen des Katholischen Lehrervereines. (Ebenhoch, 43 f)
Was über mögliche und in Vorarlberg „exotische“ Akademikerinnen gedacht wurde, äußerte der Geistliche und Feldkircher Bezirksschulinspektor Dr. Franz Metzler, die maßgebliche Instanz für katholisches Moralverhalten in Vorarlberg in einem Vortrag über „Das katholische Bildungsideal der weiblichen Jugend“: „Es gibt nichts Ekelhafteres als eine Frau, die gebildet sein will, aber keine Herzensbildung hat.“ (VV, 21.3.1924)
Der liberal-freisinnig orientierte „Wissenschaftliche Landesverein“ lud im Mai 1924 im Saalbau zu einem Vortrag über „Pharao Tut-anch-amun“ ein – „er ist längst in aller Munde, ist Mode geworden“. Die Überraschung war groß: Ein „gediegener Vortrag“ kam aus Frauenmund von Dr. Amalie Gley vom ägyptologischen Institut in Wien und noch dazu mit „künstlerischen Lichtbildern“. Ein Rezensent mit Doktortitel fasste zusammen: Der Vortrag habe nicht nur das hohe Niveau der österreichischen Forschung bewiesen, „andererseits aber, wie auch eine Frau imstande ist, in geradezu glänzender Weise eine wissenschaftliche Frage erschöpfend zu behandeln“. Wenn es in Vorarlberg solche Vortragende vorerst auch nur wenige gab, Frauen durften jedenfalls Mitglieder des traditionsreichen „Wissenschaftlichen Landesvereins“ sein und seit Jahrzehnten an seinen Vorträgen teilnehmen.
Um nicht den Anschluss an die Bildungsentwicklung von Frauen zu versäumen, wurde im März 1924 in Feldkirch der „Verein katholischer Lehrerinnen“ mit einem Festgottesdienst gegründet. Neben Weihbischof Sigismund Waitz war die gesamte Vorarlberger Bildungselite vertreten. Fräulein Johanna Stigger aus Bludenz wurde zur 1. Vorsitzenden gewählt. Für Waitz waren die Ziele des Vereins klar: „um dem Ansturm einer religionslosen, entsittlichten Jugendbewegung einen festen Widerstand leisten zu können. Gerade im Hinblick darauf, dass von gegnerischer Seite das System der Koedukation (gemeinsame Geschlechter-Erziehung) zu verwirklichen gesucht wird.“ (VV, 23. und 25.3.1924)
Der Verein hatte bereits eine zehnjährige lebhafte Vergangenheit und war als „Lehrerinnensektion“ des katholischen Lehrervereins „provisorisch“ gegründet worden. Seine Tätigkeit war für Vorarlbergs Lehrerinnen und die frühe Sozialisation der Schulkinder von größter Bedeutung, da er die Werte der katholischen Kirche festigte und verbreitete. Ständige Unterstützung erhielten die unverheirateten Lehrerinnen, die „Fräuleins“, von Bischof Sigismund Waitz, Landeshauptmann Otto Ender und dem Volksbildungsreferenten der Landesregierung, dem Geistlichen Franz Metzler. Monatlich gab es Fortbildungsveranstaltungen, sogar von deutschen und Wiener Referentinnen. Pädagogik, Psychologie und Literatur, Säuglingspflege. und „Lebenskunde als Kern der weiblichen Jugendpflege“ wurden angeboten. 1919 wurde auf der Vollversammlung die Durchführung von viertägigen Exerzitien im Mädcheninstitut Marienberg in Bregenz beschlossen. Sie wurden von 69 Lehrerinnen besucht, dem Großteil im Land Vorarlberg. (VV, 5.3.1924)
Aber noch immer war in Vorarlberg eine Lehrerinnenausbildung nicht möglich. Die Landesregierung übertrug eine solche seit 1869 den Barmherzigen Schwestern im Tiroler Ort Zams. Erschwerend kam dazu, daß nach dem Vorarlberger Lehrergesetz von 1908 bei Heirat die weitere Ausübung des Berufes verboten wurde und Pensionsansprüche verloren gingen. Man sprach vom „Lehrerinnen-Zölibat“. Überraschend geriet das Gesetz in Gegensatz zu Bischof Sigismund Waitz und zum christlichsozialen Landeshauptmann Otto Ender, die eine Steigerung der Lehrerinnenanzahl damit begründeten: „Daß Lehrerinnen durch ihr angeborenes Wesen auf Mädchen einen tiefergehenden erzieherischen Einfluß ausüben, um sie für ihre zukünftige Rolle als Hausfrau vorzubereiten.“ (VV, 25.3.1924 / Ebenhoch, 76-79 / Nachbaur)
Sogenannte „Fortbildungsmöglichkeiten“ für Frauen waren in Vorarlberg bescheiden und beschränkten sich vorerst nach dem Vorbild der Haushaltungskurse der Kreuzschwestern vorwiegend auf „Töchter“ aus der Oberschichte. Gelernt wurde Kochen, Nähen, Waschen, Bügeln usw. Doch es gab auch „theoretische Winke zur Führung von Haushaltungsbüchern“. Am wichtigsten war jedoch die „Aneignung eines allseits entsprechenden Benehmens durch Anstandsregeln“. (VV, 18.5.1894)
Eine Weiterbildung durch ein Selbststudium oder Privatissimum war für Mädchen und Frauen nicht gegeben. Zu den drei gut ausgestatteten und anspruchsvollen Schulbibliotheken des Staatsgymnasiums, Jesuitengymnasiums und der Lehrerbildungsanstalt hatten Frauen keinen Zutritt. Die von einigen honorigen Feldkircher Bürgersfrauen gemachten „Studienstipendien“ kamen nur Gymnasialschülern zugute. Das Bildungsniveau der allermeisten Frauen in Feldkirch entsprach daher dem Abschluss der sechsjährigen Volkschule. (Albrecht)